Zwischenruf: Jetzt bloß nicht mehr Kontrollen!

Inhalt:

Haben Sie die RTL-Sendung von Günter Wallraff gesehen?

Sie können dies hier einfach nachholen. Es ist erschreckend, das vorab.

Günter Wallraff bzw. seine Kollegin besucht „undercover“ einige Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, eine Wohngruppe, eine Werkstatt und eine Pflegeeinrichtung für Senioren mit Behinderung. Die gezeigten Bilder sind tatsächlich mehr als menschenverachtend.

Hier will ich mich aber darauf konzentrieren, eine organisationale Sichtweise einzunehmen.

Was passiert jetzt?

Wie gesagt, es ließe sich vortrefflich über die Art der Berichterstattung von RTL diskutieren.

Es ließe sich auch – sehr grundlegend – über die Frage nach Sinn und Nutzen von stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und damit zusammenhängend über „Inklusion“ diskutieren.

In meinen Augen muss darüber diskutiert werden, dass der Bericht von RTL natürlich (wie gewohnt) mehr als pauschal ist und es enorm viele Organisationen gibt, die eine tolle Arbeit für Menschen mit Behinderung leisten.

Das ist jedoch hier nicht mein Anliegen, auch wenn es sehr spannend wäre.

Mehr Kontrollen? Na logisch!

Ich sehe nur kommen, dass – als Reaktion auf die, wie gesagt, mehr als menschenverachtenden – Handlungsweisen in den Einrichtungen – mehr Kontrollen nicht nur gefordert, sondern auch durchgesetzt werden.

Und ich will kurz erläutern, warum mehr Kontrolle die Situation in den Organisationen nicht lösen, ggf. sogar eher verschlimmern können.

Keine Kontrolle???

Als ich mir die Bilder von RTL angeschaut habe, habe ich mir die Frage gestellt, was in den Organisationen so alles schief laufen muss, damit Menschen dahin kommen, die ihnen anvertrauten Menschen derart krass zu behandeln.

Die Frage wurde auch an die Supervisorin (ich habe leider den Namen vergessen) in dem Beitrag gerichtet. Und die Supervisorin antwortet sehr richtig:

[Tweet „Da stimmt etwas ganz Grundlegendes in der Organisation nicht!“]

Genau:

Etwas in den Organisationen scheint in eine enorme Schieflache geraten zu sein. In meinen Augen ist es die Zusammenarbeit unter den Mitarbeitenden!

Zusammenarbeit kontrollieren?

In meinen Augen ist die Kommunikation unter den Mitarbeitenden in den Organisationen so gestört, dass niemand den Mut besitzt, die offensichtlich krassen Zustände anzuprangern.

Unter den Kollegen, gegenüber der Geschäftsleitung oder auch öffentlich. Alle machen mit, oder besser:

Alle versuchen, ihren eigenen „Ar…“ ins Trockene zu bringen.

Woran das liegt? Was zuvor vorgefallen sein muss, um zu diesen Zuständen zu gelangen? Keine Ahnung, das interessiert auch jetzt nur noch wenig. Der Schuldige für die Zustände muss (vielleicht) zur Rechenschaft gezogen werden. Wichtiger ist aber, die Situation in Zukunft nicht mehr entstehen zu lassen.

Na, also, doch Kontrolle!

Nein, keine Kontrolle.

Dazu die Frage, was passiert, wenn (möglichst unangekündigte) Kontrollen in Organisationen eingeführt werden?

Es steigt vor allem das Misstrauen: das Misstrauen der Kollegen untereinander, das Misstrauen der Kollegen gegenüber den Leitungskräften und das Misstrauen der Organisation gegenüber den Kontrolleuren.

In der Konsequenz folgt daraus, dass alle Anstrengungen unternommen werden, die  Organisation zumindest nach außen so darzustellen, als ob (!) alles in Ordnung wäre. Dafür wird viel Energie verpulvert, die eigentlich viel sinnvoller für die tatsächlich menschenwürdige Arbeit mit den Menschen verwendet werden könnte.

Sollte der Aufbau der potemkinschen Dörfer dann doch nicht so gelingen, wie eigentlich geplant (!), sollte also bei den Kontrollen doch festgestellt werden, dass etwas schief läuft und die Organisation bspw. ihre Betriebserlaubnis verlieren, wird – na? – natürlich: Ein Schuldiger gesucht! Dafür muss doch jemand verantwortlich sein!

Es müssen Konsequenzen gezogen werden und das übliche Blabla beginnt, ohne auch nur im Geringsten an den Ursachen der Misere zu arbeiten. 

Ursachen vs. Symptome

Ach ja, die Ursachen!

Die Ursachen für die Misere, für die Bilder, die da bei Wallraff gezeigt werden, sind doch nicht irgendwelche duschgeknallten Mitarbeiter.

Die Ursache sind doch nicht irgendwelche bösartigen Menschen, die soziale Organisationen einzig aus einer persönlichen Bereicherungsabsicht führen. Die Ursache ist auch nicht die leider vornehmlich theoretisch geführte Diskussion um Inklusion.

[Tweet „Die Ursache ist die Frage, wie unsere Gesellschaft die Arbeit mit Menschen betrachtet.“]

Das lasse ich jetzt einfach mal so stehen. Unkommentiert, und jeder kann sich seine eigenen Gedanken dazu machen. Viel Spaß.

Symptome!

Viel lieber schrauben wir an den Symptomen herum!

Da werden in völlig überlasteten Organisationen „Teamsupervisionen“ durchgeführt, damit es zwischenmenschlich wieder klappt.

Da werden in Organisationen, die gerade so ihre gesetzlich vorgeschriebenen Rahmenbedingungen aufrecht erhalten können, „Stressmanagementseminare“ für die Mitarbeitenden angeboten.

Da werden 25jährige Menschen in die Verantwortung für Menschen genommen, die hochkomplexe Hilfebedarfe aufweisen.

Da werden… Ach egal, ich könnte ko…

Und dann?

Wenn es keine Kontrollen geben soll, wenn die Suche nach Schuldigen und den „Verantwortlichen“ uns nicht weiter bringt:

Was denn dann, bittschön?

In meinen Augen braucht es, auch wenn das für manche vielleicht maximal „sozialromantische Vorstellungen“ sind, die echte, auch profesionell begleitete Auseinandersetzung in den Organisationen darüber, wie die Zusammenarbeit gestaltet sein muss. Welche Werte liegen unserer Arbeit zugrunde? Wie wollen wir die Werte zum Leben erwecken? Wo sind Reflexionsräume über unsere Arbeit eingebaut?

Dazu braucht es Führungskräften, die den ihnen anvertrauten Menschen grundsätzlich vertrauen. Basierend auf diesem Vertrauen wird es dann möglich, auch unpopuläre, schwierige, emotional aufgeladene Aspekte gegenüber seinen Kolleginnen zu äußern, Missstände anzusprechen, Tabus zu brechen und blinde Flecken in den Organisationen zu thematisieren.

Eine kleine, sehr konkrete Übung:

Haben Sie die zuletzt eingestellte Mitarbeiterin einmal ganz konkret, ernsthaft und mit allem Vertrauen gefragt, was ihr in den ersten Tagen in der Organisation aufgefallen ist?

Und was haben Sie dann mit den Rückmeldungen gemacht?


Übrigens erinnert mich die aktuell aufkommende Diskussion um die Kontrolle der Organisationen ein wenig an die Diskussion um die Freiburger Quartiersarbeit. Warum? Das können Sie hier nachlesen.

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