Schlagwort: Innovation

Sieben Gründe, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

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Barcamps sind nichts Neues. Den Ausführungen von Simon Dückert folgend lassen sich erste Ideen dazu bis ins Jahr 1998 zurückverfolgen. Wir waren etwas später dran, aber Sabine und ich haben immerhin im Jahr 2016 das erste #Sozialcamp (unter dem Link mein Review aus 2016) ins Leben gerufen. Und ich bin immer wieder geflasht von der Kraft des Formats Barcamp. Deswegen will ich Dir hier – angelehnt an die Ausführungen in meinem letzten Newsletter – darlegen, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind.

Aktuell denke ich übrigens wieder darüber nach, ein offenes Barcamp-Format für die Soziale Arbeit ins Leben zu rufen (da das Sozialcamp leider durch Corona ziemlich gelitten hat ;-( Außerdem war ich gerade unterwegs in einer „Barcamp-Woche“. Konkret durfte ich in den letzten Tagen zwei Barcamps moderieren.

Das erste Barcamp der letzten Woche war ein „Semi-Barcamp“ rund um das Thema „Fachkräftemangel“ des Paritätischen Baden-Württemberg, bei dem im ersten Teil am Vormittag ein „klassisches Konzept“ gefahren wurde: Grußworte, Vorstellung eines Best Practice Modells und ein Impuls (den ich zum Thema Fachkräftemangel halten durfte). Der Nachmittag war dann als Barcamp-Format rund um das Thema „Fachkräfte“ konzipiert.

Das zweite Barcamp war ein „reines Barcamp“ ohne explizit vorgegebenes Thema. Es ging um Projektverzahnung, Vernetzung, die Generierung neuer Ideen und Ansätze usw., initiiert vom Verband der Privaten Krankenversicherungen.  

Warum Barcamps nicht „auch“ in der Sozialwirtschaft ankommen sollten…

Barcamps sind in den letzten Jahren auch in unseren „eher klassischen Branchen“ angekommen sind. Hier bspw. beim DRK, hier bei der Caritas in Freiburg oder hier als digitales Barcamp bei der Diakonie. Das sind nur einige Beispiele, es gibt viel mehr.

Aber aus meiner Sicht macht dieses „auch“ eigentlich keinen Sinn, denn: 

Barcamps und ähnliche Formate wie bspw. „Open Space“ sollten nicht „auch in der Sozialwirtschaft“ ankommen. 

Wir sollten uns vielmehr darüber wundern, dass es in unseren Kontexten überhaupt noch „klassische Konferenzformate“ gibt! 

Ja, diese klassischen Formate haben auch (noch) ihre Berechtigung, aber wenn man sich ein paar der Vorteile von offenen Konferenz- oder Barcamp-Formaten anschaut, wird es sehr deutlich.

Dazu macht es Sinn, sich die Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft vor Augen zu führen.

Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft  

1. Partizipation und Mitgestaltung: 

Barcamps zeichnen sich durch ihre offene Struktur aus, bei der die Teilnehmer:innen zu Teilgeber:innen werden und damit aktiv an der Gestaltung des Programms teilnehmen. Statt vordefinierter Vorträge und Workshops können die Teilgeber:innen selbst Themen, Fragen, Ideen… einbringen. Und wo, wenn nicht in sozialen Organisationen, wird Partizipation besonders groß geschrieben? Das gilt übrigens nicht nur für die Partizipation(swünsche) der Mitarbeiter:innen. Vielmehr wird auch von den Klient:innen aktive Beteiligung und Eigenverantwortung erwartet, da Soziale Arbeit ja genau darauf abzielt: Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung. Autonomie und Selbstbestimmung aber findet in klassischen Settings kaum statt.

2. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: 

Herkömmliche Veranstaltungen haben oft ein sehr starr vorgegebenes Programm. Barcamps hingegen haben zwar auch einen Zeitplan (45 minütige Sessions). Sie sind aber inhaltlich flexibel und können sich damit an aktuelle Themen, Bedürfnisse und Interessen der Teilgeber:innen anpassen. Und gerade in der Arbeit mit Menschen ist Flexibilität und die Notwendigkeit, schnell auf Veränderungen zu (re-)agieren, im Alltag Standard. Warum nicht auch in Veranstaltungsformaten? 

3. Vielfalt an Themen und Perspektiven: 

Da bei Barcamps die Teilgeber:innen die Themen bestimmen, sind die Veranstaltungen inhaltlich enorm divers. Dies fördert den interdisziplinären Austausch und ermöglicht den Teilgeber:innen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und wo, wenn nicht in der Sozialwirtschaft, ist Diversität – themenbezogen, aber noch vielmehr bezogen auf die Menschen – hoch relevant? 

4. Netzwerken und Beziehungen: 

Barcamps bieten viel Gelegenheit zum Netzwerken. Die informelle Atmosphäre, das „Barcamp-Du“ und die Möglichkeit, sich aktiv in Diskussionen einzubringen, erleichtern es, neue Kontakte zu knüpfen und bestehende Beziehungen zu vertiefen. Netzwerk-, vor allem aber Beziehungsgestaltung...muss ich nicht vertiefen, oder? 

5. Geringe Kosten:

Barcamps sind oft kostengünstiger als herkömmliche Konferenzen. Man muss keine Referent:innen bezahlen (auch wenn eine Moderation von außen hilfreich ist, you can call me ;-), Man muss die Räume nicht wahnsinnig technisch ausstatten usw. Vielmehr leben Barcamps zum einen von der Partizipation der Teilgeber:innen (s.o.) und zum anderen vom „Werkstattcharakter“, dem „Unfertigen“, dem Gestaltbaren. Und weniger Kosten…muss ich nicht vertiefen, oder?

6. Informelle Atmosphäre: 

Herkömmliche Veranstaltungen sind oft sehr „förmlich“, während Barcamps eine entspannte, „informellere“ Atmosphäre bieten. Und falls Du an der Stelle Lust hast, kannst Du meinen Beitrag zur „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ lesen. Hier, in Barcamps, ist die Informalität hochgradig funktional (was bei dominierender Informalität in der Gestaltung der Zusammenarbeit nicht immer der Fall ist). 

7. Wissensaustausch und Lernen: 

Die offene Natur von Barcamps fördert den Wissensaustausch und das gemeinsame, selbstbestimmte Lernen. Die Teilgeber:innen profitieren von den Ideen und Erfahrungen der anderen und in kurzer Zeit entsteht Verbindung, Verbundenheit und persönliche ebenso wie inhaltliche Netzwerke. Und das (neues) Lernen für Menschen in und soziale Organisationen insgesamt wichtig ist, kannst Du bspw. hier nachlesen. 

Warum Barcamps die Möglichkeit zum Umgang mit der VUCA-Welt sind

Was mich aber über all diese Punkte hinaus am Meisten fasziniert, ist die Möglichkeit, wie es in Barcamps gelingt, mit der uns alle beschäftigenden Komplexität umzugehen

Durch all die oben genannten Aspekte und Vorteile wird es möglich, komplexe Fragen so anzugehen, dass nicht unterkomplexe Antworten gegeben, sondern die Welle der Komplexität gemeinsam gesurft wird. Denn: 

Für fast alle Fragen, die Soziale Organisationen, Bildungseinrichtungen, Verwaltungen… aktuell bewegen (Fachkräftemangel, KI, Klima, Krieg, Einsparungen und Co.) gibt es nicht die eine richtige Antwort.  

Vielmehr sind diese Fragen nur gemeinsam, interdisziplinär und sektoren- bzw. innerhalb von Organisationen bereichsübergreifend anzugehen.

Komplexität zu bewältigen braucht Tests und Experimente.

Es ist auszuprobieren, es ist gemeinsam zu experimentierenwie eine bessere Zukunft gestaltet werden kann. 

Und aus den Ergebnissen, die in den Sessions der Barcamps entstehen, lassen sich genau diese „Experimente“ gestalten:

  • Es können sich neue Netzwerke ergeben – bspw. zum Thema „Nutzung von KI in der eigenen Organisation“.
  • Es können konkrete Lösungen erarbeitet werden – bspw. für spezifische Fragen.
  • Es kann aber auch ganz einfach Austausch stattfinden, der – vielleicht – im Sinne der Serendipität – zu neuen, bislang nicht gedachten Ideen und Lösungen führt.

Organisationsinterne Barcamps

Barcamps werden in den meisten Fällen entweder ganz offen angeboten (bspw. das Sozialcamp von damals…) oder häufig durch Verbände initiiert, die ihre Mitgliedseinrichtungen zu bestimmten Themen zusammenbringen wollen (siehe die Beispiele oben).

Es ist aber nicht nur möglich, sondern auch hochgradig sinnvoll, ein Barcamp innerhalb der eigenen Organisation – bspw. als Alternative zu einer klassischen Klausur – zu organisieren. Hilfreich dazu ist es, ein paar Schritte zu beachten:

  • Interesse wecken: Mitarbeiter:innen über die Idee und Grundanliegen eines Barcamps informieren um ihr Interesse zu wecken.
  • Organisationsteam bilden: Ein Team zusammenstellen, das die Veranstaltung planen und koordinieren kann.
  • Rahmenbedingungen schaffen: Einen geeigneten Ort und Zeitpunkt festlegen sowie die notwendige technische Ausstattung sicherstellen.
  • Teilnehmer einbinden: Die Mitarbeiter:innen dazu ermutigen, Themen für das Barcamp vorzuschlagen und abzustimmen, um eine relevante Agenda zu erstellen.
  • Kommunikation fördern: Die Teilgeber:innen aktiv dazu ermutigen, ihre Ideen und Meinungen während der Veranstaltung zu teilen.
  • Dokumentation: Alle Ergebnisse dokumentieren (und im Nachgang aufbereiten).
  • Feedback sammeln: Nach dem Barcamp Rückmeldungen sammeln, um Verbesserungen für zukünftige Veranstaltungen zu identifizieren.

Eine richtig gute Anleitung zur Organisation von einem Barcamp findet sich übrigens im lernOS Barcamp Leitfaden. Das lohnt sich wirklich.

Zukunft ermöglichen, oder: Warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

Auch wenn die Ausführungen für viele wahrscheinlich nicht besonders neu waren oder manche von Euch vielleicht schon Barcamps besucht haben, finde ich es relevant, immer mal wieder darauf zu verweisen, dass es Wege gibt, anders an übergreifende oder auch organisationsinterne Herausforderungen heranzugehen.

Und die Herausforderungen, die es heute und in Zukunft zu bewältigen gilt, sind enorm. Entsprechend plädiere ich hier, als eine Option, für die Barcamp-Methode.

Barcamps aber sollten keine exotischen „Experimente“ sein, sondern vielmehr zum Standardformat für Veranstaltungen werden, die zur Ermöglichung der Zukunft anregen

Ach ja, im Kleinen, im Team oder auch in organisationsinternen Netzwerken, lohnt sich auch ein Blick auf die Methode des „Lean Coffee“, um gemeinsam an neuen Ideen und der Entwicklung der Organisation zu arbeiten.

Warum wir verpflichtende Weiterbildung in der Sozialen Arbeit brauchen

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Kontinuierliche Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist und war schon immer relevant, um neue und sich ständig verändernde Anforderungen zu bewältigen.

Gefordert sind übergreifend Kompetenzen zur Zukunftssicherung der Organisationen und der Gesellschaft. Und spezifisch sind der Weiterentwicklung fachlicher Kompetenzen Kompetenzen für die Gestaltung der digitalen ebenso wie der ökologischen Transformation gefordert.

Diese “Future Skills” (s.u.), wie Innovationskompetenz, Transformationskompetenz oder auch Unsicherheitsbewältigungskompetenz, sind schon jetzt und werden zukünftig unabdingbar. Aus der Herausforderung kontinuierlicher Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels eine Notwendigkeit geworden. 

Mit Blick auf das Angebot und der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit zeigen sich jedoch einige Paradoxien und Herausforderungen. Diese wollen wir hier skizzieren und Ideen zeigen, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann. Am Ende bleiben aber, wie so oft, mehr Fragen als Antworten.


von Prof. Dr. Berthold Dietz und Hendrik Epe


Paradoxien bzgl. der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Noch einmal: Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist notwendig. Es zeigen sich jedoch mindestens drei paradoxe Szenarien, die wir im folgenden näher beschreiben:   

1. Schere zwischen der Relevanz und der Wahrnehmung von Weiterbildung

Branchenübergreifend zeigt sich, dass – obwohl die Zustimmung der Arbeitnehmer:innen wie der Arbeitgeber zur Notwendigkeit “lebensbegleitenden Lernens” enorm hoch ist – die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten hinter den Weiterbildungsbedarfen zurückbleibt (vgl. bspw. cedefop, 2022). 

Es ist davon auszugehen, dass diese Diskrepanz auch in den Sozialen Berufen existiert. Dies ist gerade mit Blick auf die Qualifikation von Leitungskräften interessant: 

Der Weiterbildungsbedarf nimmt auf höheren Qualifikationsebenen eher zu. So sieht – in der Theorie – der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) bzw. der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) für Leitungskräfte bspw. das Level 7 (Master-Niveau) vor. Ähnlich werden Leitungskompetenzen auch im “Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit” (vgl. Fachbereichstag Soziale Arbeit, 2016) nicht auf Bachelor-, sondern auf Master-Level verortet.

Unsere (nicht verifizierte) These lautet, dass eine Umsetzung und Anerkennung dieser höheren Qualifikationsstufen in der beruflichen Realität nicht (umfassend) berücksichtigt wird. 

So zeigt die Erfahrung in den Sozialen Organisationen, dass die Besetzung von Führungspositionen (bspw. auf Team- oder Abteilungsebene) nicht zwingend an eine Höherqualifizierung gekoppelt ist. Insbesondere in kleineren und mittelgroßen Einrichtungen fehlen darüber hinaus (aus unterschiedlichen Gründen) interne Qualifizierungsprogramme für Führungskräfte. Eine Verpflichtung zur Wahrnehmung von externen Weiterbildungsangeboten (bspw. des Sozialmanagements) findet sich ebenso wenig. 

2. Der Hype-Effekt und das Dilemma der Themenjagd

Weitergehend zeigt sich mit Blick auf die Weiterbildungsangebote rund um die Soziale Arbeit und das Sozialmanagement, dass deren Vielfalt scheinbar grenzenlos ist. 

Dabei fokussieren viele Angebote jedoch über das Bedienen von “Managementmoden”,   verstanden als “breit geteilte Vorstellungen darüber, wie (…) Verbände besser organisiert werden können” (Kühl, 2022), auf die Jagd nach Teilnehmer:innen, statt grundlegende, wissenschaftlich fundierte Angebote zur Entwicklung moderner, aber basaler Kompetenzen bereitzustellen. 

Ein auffälliger Aspekt der aktuellen Weiterbildungslandschaft lässt sich als „Hype-Effekt“ definieren: 

Themen, die für Aufsehen sorgen und als reißerisch gelten, dominieren oft die Diskussion. Weiterbildungsangebote zu “Managementmoden” werden erfolgreich kommuniziert und es scheint, als wären Weiterbildungsanbieter nur auf der Jagd nach den neuesten Trends zu sein, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Während diese Strategie kurzfristig (wirtschaftlich) erfolgreich sein kann, bleiben die oftmals komplexen Grundlagen der Sozialen Arbeit und des Sozialmanagements auf der Strecke. Fundamentale, grundlegende Weiterbildungsthemen geraten in den Hintergrund und werden vernachlässigt.

3. Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist Privatsache

Trotz des Wandels der Arbeitswelt und der Notwendigkeit kontinuierlicher Weiterbildung hält sich mit Blick auf die Sozialwirtschaft – etwas überspitzt formuliert – die traditionelle Ansicht hartnäckig, dass Weiterbildung Privatsache ist. 

Es gibt, und hier bestätigen die Ausnahmen die Regel, kaum systematische Förderung durch Verbände und Organisationen – und dies, obwohl in vielen Arbeitsfeldern Weiterbildungen wie bspw. systemische Beratungskompetenzen explizit vorausgesetzt werden. 

Ein Grund dafür ist, dass “Weiterbildungsaktivitäten in Einrichtungen der Sozialen Arbeit oftmals nur unzureichend in das Managementhandeln von Leitungskräften eingebunden” (Gesmann, 2022, 1f) sind. Daraus resultiert ein Dilemma: 

Obwohl die Arbeitsanforderungen immer komplexer werden, fehlt es oft an Anreizen und formalen Strukturen, um Weiterbildung in den aufgrund des Fachkräftemangels sowieso schon vollen Arbeitsalltag der Fach- und Führungskräfte zu integrieren. 

Gesmann sieht hier die Notwendigkeit der Implementierung eines “systemischen Weiterbildungsmanagements in Organisationen der Sozialen Arbeit” (vgl. 2022). Dieses muss sich explizit “nicht nur an der sich weiterbildenden Fachkraft, sondern zugleich am strukturell gekoppelten sozialen System (i. d. R. dem jeweiligen Team des*der Einzelnen)” (ebd., 164) orientieren mit dem Ziel, “nicht nur (…) einen Transfer I. Ordnung (im Sinne der klassischen Anpassungslogik) zu evozieren, er strebt zudem einen Transfer II. Ordnung an, soll also einen Nährboden schaffen, um individuell erfahrene Irritationen auch zur kontrollierten Destabilisierung vorhandener Kommunikations- und Entscheidungsmuster nutzen zu können (Transfer II. Ordnung)” (ebd.). 

Ein entsprechendes Weiterbildungsmanagement hängt jedoch wiederum an den beiden zentralen Ressourcen Zeit und Geld – im Bilden von Anreizstrukturen (Fachkräftebindung) genauso wie in der Mitarbeitenden- und Organisationsentwicklung. 

Beides ist unserer Meinung nach extrem unterschätzt. Vielmehr besteht der Verdacht (der mangels belastbarer Umfragedaten ein Verdacht bleiben muss, wenn auch “erhärtet”), dass Personalverantwortliche trotz des Fachkräftemangels keine Weiterqualifizierung finanzieren wollen, die danach durch Weggang der Fachkraft anderen Organisationen zugute kommen könnte. 

Und vielleicht wiegt sogar der Aspekt noch höher, dass der Transfer II. Ordnung – die Destabilisierung des bekannten Systems – Ängste hervorruft, die durch die Versagung von Weiterbildung vermieden werden.  

Entweder ist der Personaldruck noch nicht hoch genug und wird noch durch Arbeitsverdichtung kompensiert und an die Mitarbeitenden weitergegeben (was wiederum der Wahrnehmung von Weiterbildung entgegen wirkt), oder aber der Wert von individueller und gleichzeitig organisational gesteuerter Weiterbildung wird unterschätzt. Die Fantasie zur Mitarbeitendenentwicklung reicht noch nicht aus, um sich eine Investition in das eigene Personal mit allen Kosten, aber eben auch Mehrwerten und Gewinnen für die Organisation vorstellen zu können – auch wenn die Mehrwerte und Gewinne nicht kurz-, sondern eher mittel- und langfristig sichtbar werden. 

Den Aspekt der “Weiterbildung als Privatsache” abschließend ist der Blick auf die Möglichkeit, gesetzliche Ansprüche auf Weiterbildung geltend zu machen (bspw. Bildungsurlaub), interessant: 

Eine nicht verifizierte Annahme dazu könnte lauten, dass die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Rechte insbesondere in der Sozialen Arbeit weit unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Branchenübergreifend ist – trotz schlecht vergleichbarer Datenlage – etwa bei Eurostat bekannt, dass Deutschland im Vergleich eher unterdurchschnittlich in Bildung investiert (Quelle: Eurostat: Online-Datenbank: Öffentliche Ausgaben für Bildung in % des BIP (03/2019), Öffentliche Ausgaben für Bildung in jeweiligen Preisen (09/2018); zitiert nach https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/135809/oeffentliche-bildungsausgaben/). 

Man könnte, etwas überspitzt, formulieren, dass das Land der Dichter und Denker in Wahrheit eher das “Land der schlichten Gelenkten” ist, die sich nicht aktiv, selbstbestimmt und autonom um ihre Entwicklung bemühen. Mit den Worten von Konstantin Sakkas formuliert:

“Denn wir waren nie ein Volk von Dichtern und Denkern, sondern höchstens ein Volk mit überdurchschnittlich vielen Dichtern und Denkern – die sich in Deutschland allerdings (…) nur selten richtig wohl fühlten.” 

(Sakkas 2010)

Und Sakkas ist sicherlich nicht der Erste und nicht der Einzige, der Deutschland Bildungsfeindlichkeit attestiert, womit nicht nur das Fehlen von Kita-Plätzen und der Zustand von allgemeinbildenden Schulen gemeint ist, sondern auch das Bild von Bildung und Lernen und damit auch das Bild von Weiterbildung im Erwachsenenalter. Hierbei spielt wahrscheinlich auch die Unsicherheit über die Durchsetzbarkeit und die fehlende Information und Sensibilisierung von Arbeitnehmenden ebenso wie der Beschäftigenden eine Rolle.

Weiterbildungsverhalten und passgenaue Angebote?

Die Forschung unterscheidet zwischen allgemeiner Erwachsenenbildung (z. B. der klassische VHS-Kurs) und berufsbedingter, betrieblicher Fort- und Weiterbildung (entwickelt und angeboten durch Arbeitgeber oder Verband). Beide Weiterbildungsbedarfe sind nicht steuerbar und sind hier nicht von Interesse, weil sie entweder stark auf persönliche oder betriebliche Belange zugeschnitten sind. 

Was uns insgesamt in der Sozialwirtschaft jedoch interessieren sollte, in Zeiten chronischer Personalprobleme (nicht nur) in Kitas und Pflegeheimen sowie des sich vollziehenden Generationenwechsels durch den demografischen Austritt der geburtenstarken Boomer aus der Arbeitswelt – Antworten auf die schlichte Frage, wie und welche sozialen Angebote aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln sind. 

Seitens der Angebote betrifft es nicht die Orchideenfotografie, die von Bildungsskeptischen gerne als ”Argument” gegen eine flächendeckende, allgemeine Förderung von Fort- und Weiterbildungen angeführt wird. 

Die Leute sollen ihre Arbeit machen, in Zeiten der Bildung fehlen sie in den Teams und kommen nur auf komische Gedanken, die betrieblich für Unruhe sorgen (siehe Transfer II. Ordnung). Machen wir uns nichts vor: Hand hoch, wer nicht auch damit rechnet, dass solche Steinzeit-Einstellungsmuster noch existieren.

Wer die Hand unten behält, macht entweder positivere Erfahrungen mit Personalverantwortlichen und/oder ist mit qualifizierteren Bedenken konfrontiert: “Wie vereinbare ich Arbeitszeit, Familienzeit und Bildungszeit?” Mache ich diese spezielle Fortbildung zu Konfliktmanagement oder zu systemischer Beratung, dann bin ich u. U. in einer erheblich leichteren Verhandlungsposition gegenüber meinen Vorgesetzten. 

Schwierig wird es in der Kategorie “individuelle, berufsbezogene Weiterbildung”, also dem Weiterbildungssegment, welches nicht unmittelbar der aktuellen Tätigkeit, sondern der persönlichen Entwicklung im gewählten Beruf in einem breiteren Sinne entspricht. 

Die Weiterbildungsbeteiligung in diesem Segment ist zugunsten der direkten betrieblichen Fortbildung zwischen 2012 und 2020 deutlich zurückgegangen, anteilig von 13% zu nur noch 8% an allen Weiterbildungsaktivitäten (BMBF 2023:22). Sicherlich kann in der Folge ein Pandemie-Effekt nicht geleugnet werden, der angesichts allgemeiner Verunsicherung alles Zukunftsweisende einer strengen Effizienzbewertung unterzog, aber der Zug in Richtung Vereinbarkeit, Passgenauigkeit und unmittelbarer Verwertbarkeit fuhr schon viel früher ab.

Analysiert man das Weiterbildungsverhalten und fragt nach den Gründen der Nichtteilnahme bei Weiterbildungswilligen, so stehen zwei Hinderungsgründe im Vordergrund: Finanzierung und familiäre Gründe.

Geht man hier weiter in die Tiefe, so zeigt sich ein gravierender Geschlechterunterschied. Während nur 22% der sich nicht weiterbildenden Männer als Hinderungsgrund familiäre Gründe geltend machen, geben diese als Haupthinderungsgrund über 45 % der Frauen an (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271573; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00; Daten für 2016). 

Bei den Kosten als Haupthinderungsgrund ist das Geschlechterverhältnis 27% (m) zu 37% (w) (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271935; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00).

Kurz und vereinfachend gesagt spielen also auch hier Betreuungssituation wie auch Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten bzw. der Gender Pay Gap eine nicht unwesentliche Rolle. Was beides für das Weiterbildungsverhalten mit Blick auf mehrmonatige Programme mit institutionellem Abschluss bedeutet, liegt auf der Hand, wenn man weiß, wie hoch der Anteil von Frauen in sozialen, erzieherischen und pflegerischen Berufen ist.

Handlungsoptionen zur Steigerung der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Das Darlegen von (teils offensichtlichen) Herausforderungen allein ist selten ausreichend für gelingende Veränderung. Vielmehr braucht es das Aufzeigen von Möglichkeiten, wie den Herausforderungen begegnet werden kann. Einige dieser Möglichkeiten bezogen auf die Weiterbildung in der Sozialen Arbeit werden im Folgenden dargelegt.

Die Vielfalt der Angebote und ihre Grenzen

Trotz der Vielfalt an Weiterbildungsangeboten stellt sich die Frage, ob diese Vielfalt ausreicht, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden?

Braucht es in einer Zeit, in der sich die Anforderungen rasch ändern, nicht vielmehr ganz neue Herangehensweisen an Weiterbildung, wenn klassische Weiterbildungsmodelle an ihre Grenzen stoßen?

Zum einen ist gegen die Angebotsvielfalt grundsätzlich wenig einzuwenden. Diese “belebt das Geschäft” und fördert das Zustandekommen von innovativen Ansätzen und Inhalten. Hinzu kommt, dass sich die Weiterbildungsnotwendigkeiten aufgrund der eingangs geschilderten gesellschaftlichen und organisationalen Wandlungsprozesse ebenfalls kontinuierlich wandeln und entwickeln. 

Zum anderen ist das oftmals klassisch strukturierte “zur Verfügung stellen” der Angebote zu hinterfragen. Anstatt lang andauernder, mit hohen Kosten und Aufwand verbundener „Komplettpakete“ könnten von Seiten der Anbieter der Weiterbildungen innovative Ansätze wie „Weiterbildungs-Primes“ in Betracht gezogen werden:

Ähnlich wie ein Abonnement oder ein exklusives Angebot könnten Weiterbildungs-Primes auf die Bedürfnisse von Fachkräften zugeschnitten und sofort verfügbar sein.

So liegt, jenseits der gehypten Angebote, die es in einem Weiterbildungsmarkt immer geben wird, das Hauptaugenmerk auf den Kriterien Transparenz, Dauer und Kosten. Weiterbildungswillige wie Beschäftigende wollen wissen, was sie vom Bildungsinvestment haben. Dies gilt umso mehr für Weiterbildungsangebote, die mehr der längerfristigen, individuellen Entwicklung als einer kurzfristigen, unmittelbaren Tätigkeitsverwertung entsprechen. Programme, die von mehrmonatiger Dauer sind und auf Jahre konzipiert und akkreditiert werden, sind nur bedingt in der Lage, darauf zu reagieren.

Wir müssen in kleineren Häppchen – den Weiterbildungs-Primes – denken, auch um damit den Bildungsteilnehmenden die Möglichkeit zu geben, auf ihre Weiterbildung gestalterisch Einfluss zu nehmen und sich ihr individuelles Bildungspaket zusammenzustellen.

Bildung muss wie andere meritorische Güter (wie Information, Gesundheitsversorgung oder Kultur) verfügbar sein, wie und wann ich sie brauche, bzw. wie sie in mein Leben passt. Das klingt nach einem konsumistischen Credo, ist aber in erster Linie ein Anspruch, mehr und positivere Bildungserfahrungen zu ermöglichen. Diese braucht es zwingend, um „lebenslang“ weiterzulernen und weiterzukommen.

New Social Work braucht New Social Learning braucht Organisationsentwicklung

„New Learning“ (vgl. näher dazu Foelsing und Schmitz, 2021) lässt sich als Konzept definieren, das auch in der Sozialen Arbeit aus zwei Perspektiven eine wichtige Rolle spielen sollte. 

New Learning lässt sich a) individuell in der Frage zusammenfassen, wie es gelingen kann, selbstgesteuerte und autonome Ansätze des Lernens und zur Gestaltung der eigenen Lernumgebung und -inhalte zu schaffen. Mehr zum Thema New Learning kannst Du auch hier nachlesen.

Gleichzeitig stellt New Learning die Frage, wie es b) den Organisationen der Sozialen Arbeit gelingen kann, “Lernökosysteme” zu schaffen, die weit über klassische Lernsettings wie bspw. das “Wissensmanagement” hinausgehen. 

New Learning greift die Ideen des oben skizzierten “systemischen Weiterbildungsmanagements” auf und erfordert aus beiden Perspektiven – individuell wie organisational – ein Umdenken: 

Zum einen sind die Beschäftigten der Sozialen Arbeit gefordert, sich mit Lernen, Bildung und damit auch der Weiterbildung zu befassen. Es reicht heute und in Zukunft nicht mehr aus, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren und darauf zu hoffen, dass damit dann auch “Schluss mit Lernen” ist. Vielmehr gilt es, ein (neues) Bewusstsein lebensbegleitenden Lernens zu schaffen. Dieses muss über die alle paar Jahre stattfindende Wahrnehmung klassischer, von der Organisation verordneter Weiterbildungsangebote hinausgehen. Es geht darum, eine Haltung zu selbstbestimmtem Lernen und Weiterbildung zu schaffen, die es ermöglicht, selbstbestimmt und autonom eigene Lernoptionen zu finden, zu nutzen und auch zu gestalten. Diese Perspektive könnte die Vermutung nahelegen, dass Weiterbildung damit wieder “ins Private” abgeschoben wird. Das ist aber nicht zielführend.

Entsprechend sind zum anderen die Organisationen der Sozialen Arbeit gefordert, Lernen, Bildung und damit auch Weiterbildung zu einem der heute und in Zukunft wichtig(st)en strategischen Thema zu machen. Organisationen der Sozialen Arbeit sind gefordert, ihren Mitarbeitenden ein Lernökosystem bereitzustellen, das selbstgesteuertes, autonomes Lernen nicht nur ermöglicht, sondern explizit fördert. 

Diese Lernökosysteme gehen jedoch über klassische Maßnahmen – wie bspw. dem Angebot eines Weiterbildungskatalogs – hinaus. Lernökosysteme umfassen bewusst gestaltete, zum Lernen einladende Räumlichkeiten, Möglichkeiten der Wahrnehmung von internen wie externen und digitalen wie analogen Angeboten, das Nachhalten der Wirksamkeit der Lernaktivitäten der Mitarbeitenden ebenso wie eine veränderte Einstellung zur Weiterbildung der Führungskräfte (und vieles mehr, vgl. ebd., 309ff). 

Lernökosysteme betreffen damit das Organisationsdesign sozialer Organisationen, von den Kommunikationswegen über die Gestaltung der Regeln und Prozesse bis hin zur Frage der Einstellung von Personen.

Über die Ausrichtung der Formalstruktur der Organisationen auf die Ermöglichung von Lernen besteht die Hoffnung, perspektivisch eine oftmals gewünschte „Lernkultur“ nicht nur auszurufen, sondern tatsächlich zu ermöglichen.

Die Herausforderung des Ungewissen – oder: Wie lange können wir uns die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit noch leisten?

Schließlich stellt sich die Frage nach Ausrichtung und Qualität existierender Weiterbildungsangebote. 

Oft basieren viele Angebote auf gesicherten Wissens- und Kompetenzbeschreibungen. Alle Spezialisierungen und unmittelbaren Tätigkeitsverwertungen sind Schritte in eine fachliche Zementierung, in der alle ihren Arbeitsplatz in gut funktionierenden Prozessen haben. 

Die Realität jedoch ist längst eine andere: 

Es herrscht Mangel, Arbeiten am Limit, permanente Improvisation zum Bewältigen von Unterbesetzungen und zunehmender Ausfälle. Wir befinden uns zudem in Transformationsprozessen größerer und größter Art. 

Es sind nicht nur die Bedarfe, mit denen die Strukturen einer “industriellen” Sozialwirtschaft nicht mehr Schritt hält. Es sind die Strukturen der Organisationen wie die Strukturen des Funktionssystems Sozialwirtschaft selber, die sich nicht als zukunftstauglich erweisen. 

In einer sich schnell entwickelnden Welt ist das Lernen am Ungewissen, das Auseinandersetzen mit “Noch-nicht-zu-Ende-Gedachtem”, von entscheidender Bedeutung. Die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen und kreativ zu denken, wird zunehmend wichtiger. 

An dieser Stelle ist wiederum auf die Implementierung der “Future Skills” zu verweisen und zu fragen, wie es gelingen kann, einerseits wissenschaftlich fundierte Angebote bereitzustellen, die zukunftsfähiges Lernen ermöglichen und andererseits notwendige Entwicklungen der Weiterbildungsangebote aufgrund von einem “Festhalten am Alten” nicht zu verschlafen? 

Insbesondere im hochschulischen Kontext – beim Angebot bspw. von Master-Studiengängen – regen wir an, die trotz der Regulierungen durch bspw. die Akkreditierung vorhandenen Freiheiten und Möglichkeiten zu nutzen und das “noch nicht zu Ende gedachte” in die Entwicklung und Umsetzung der Weiterbildungsangebote aufzunehmen. 

Über dieses Vorgehen kann ganz praktisch und hautnah “agiles Arbeiten” erlebt werden: Über Annahmen und Hypothesen lassen sich auch in bestehenden Weiterbildungsangeboten Experimente machen und neue Wege gehen. Diese Experimente sind – das ist relevant – regelmäßig zu reflektieren, um aus den Erfahrungen zu lernen und fundierte Weiterentwicklung zu ermöglichen. 

Fazit: Den Spagat meistern

“Nachtigall, ick hör Dir trapsen!” 

Da schreiben zwei Menschen, die selbst in die Entwicklung und Durchführung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit aktiv eingebunden sind, über das Scheitern des Systems. Sie plädieren für die Notwendigkeit von Weiterbildung und für die Implementierung von “systemischem Weiterbildungsmanagement”. Sie kritisieren die Vielfalt an Hype-Angeboten und bieten gleichzeitig selbst “Schauseiten-Weiterbildungen” zu abgefahrenen Themen wie “New Social Work”, “OKR in der Sozialwirtschaft” oder “Agilem Arbeiten in Sozialen Organisationen” an (ich, Hendrik ;-)) bzw. sind als Leiter eines berufsbegleitenden Masterstudienganges ein klassischer Vertreter klassischer tertiärer institutioneller Angebote, die man sich zeitlich und finanziell erst einmal leisten können muss (ich, Berthold ;-)). 

Da ist doch ein Haken, oder? Das kann doch nicht ganz uneigennützig sein? 

Ja, stimmt. Der wesentliche Haken, den wir sehen, ist, dass es deutlich mehr Fragen als eindeutige Antworten gibt, was sich auch im vorliegenden Beitrag niederschlägt. 

Ein Aspekt liegt uns aber am Herzen, der sich in der folgenden Frage manifestiert: 

“Wie kann es gelingen, die für die Zukunft einer lebenswerten Gesellschaft hoch relevante Soziale Arbeit in all ihren Facetten so zu unterstützen, dass sie ihrem eigenen Anspruch heute und in Zukunft gerecht werden kann?”

Dieser Anspruch zeigt sich in der internationalen Definition Sozialer Arbeit: 

“Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung  von Menschen.” 

(IFSW 2014)

Der Anspruch ist hochgradig komplex und die skizzierten Paradoxien in der Weiterbildungslandschaft spiegeln die Komplexität der Sozialen Arbeit und übergreifend der modernen Arbeitswelt wider. 

Es gilt, die Balance zwischen aktuellen Trends und fundierter Bildung, zwischen individueller Verantwortung und systematischer Unterstützung zu finden. Nur so können Fachkräfte in der Lage sein, den Herausforderungen der Zukunft souverän zu begegnen und ihre Fähigkeiten kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Um diesen komplexen Herausforderungen auch zukünftig begegnen zu können, geben wir abschließend noch eine Frage mit: 

Muss, vor dem geschilderten Hintergrund, Weiterbildung in der Sozialen Arbeit verpflichtend sein? 

Wir denken, dass einiges dafür spricht. 


Wie sind Deine Eindrücke bzgl. der Weiterbildung in der Sozialen Arbeit? Schreib uns diese gerne hier in die Kommentare oder per Mail!


Literatur: 

Drei Thesen für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit

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Spätestens seit der Pandemie sollte klar sein, dass diese „Digitalisierung“ hilfreich, vor allem aber nicht mehr wegzudenken ist. Videokonferenzen, digitale Kommunikation, Vernetzung, effiziente Prozesse mit daraus resultierender Arbeitserleichterung und vieles mehr sprechen für digitale Entwicklungen auch in der Sozialwirtschaft bzw. spezifischer: in Organisationen der Sozialen Arbeit. Und trotzdem geht es mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialwirtschaft nicht (wirklich) voran. Warum ist das so? Was braucht es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit? Darauf will ich hier eingehen.

Aber muss dieser Beitrag in Zeiten von AI, in Zeiten von augumented intelligence, wirklich sein? Haben nicht wirklich langsam alle verstanden, dass es keinen Weg zurück, an digitalen Entwicklungen vorbei, gibt? Doch, schon, aber trotzdem.

So basiert dieser Beitrag darauf, dass ich in vielen Veröffentlichungen, bspw. in den sozialen Medien, immer wieder lese, dass „Digitalisierung (in) der Sozialen Arbeit helfen kann“, aktuelle und zukünftige Herausforderungen Sozialer Arbeit zu lösen.

Das ist mir deutlich zu undifferenziert, da ich in den Organisationen, Einrichtungen und Teams, in denen ich unterwegs sein darf, an vielen Stellen eine zunehmende „Digitalisierungsskepsis“ wahrnehme.

Echte, tiefgreifende Verbesserungen der eigenen Arbeit durch Digitalsierung haben sich – so die Wahrnehmung vieler Fachkräfte – häufig nicht ergeben. Das Versprechen, mehr Zeit für die Klient:innen zu haben, für die eigentliche Soziale Arbeit, für die Arbeit mit den Menschen, hat sich häufig nicht eingelöst.

Und leider viel zu hautnah musste ich in den letzten Wochen ambulante Pflegekräfte eines modernen Verbands erleben, die sehr bewusst Stift und Papier zur Dokumentation verwenden. Auf die Frage „Warum denn nicht digital?“ kam die sehr nachvollziehbare Rückmeldung:

„Stift und Papier funktioniert immer, schnell und sicher, auch bei sauerländischen Funklöchern“.

Aber:

Was ist Digitalisierung eigentlich?

Boah, echt jetzt? Schon wieder diese Grundsatzdebatte? Ganz ehrlich Hendrik, kauf dir’n Buch.

Zum Beispiel:

  • Beranek, Angelika; Hill, Burkhard & Sagebiel, Juliane Beate (2019): Digitalisierung und Soziale Arbeit – ein Diskursüberblick. In: Soziale Passagen 11(2), 225-242.
  • Hagemann, Tim (Hrsg.): Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz. Veröffentlichung zum zehnjährigen Bestehen der FH der Diakonie. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2018, Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Grundlagen – Strategien – Praxis. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2020): Sozialinformatik. Digitaler Wandel und IT-Einsatz in sozialen Organisationen, 3., überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos.
  • Kutscher, N. et. Al. (2020, Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Pölzl, A., Wächter, B. (2019): Digitale (R)Evolution in Sozialen Unternehmen. Praxis-Kompass für Sozialmanagement und Soziale Arbeit. Regensburg: Walhalla.
  • Wunder, M. (2021, Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit. Transformationen und Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Das ist nur eine Auswahl der vielfältigen Veröffentlichungen rund um das Thema „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ der letzten Jahre.

Und ja, in den Veröffentlichungen stehen wichtige, spannende, richtige Aspekte rund um das Thema. Es lohnt sich, sich auf Basis von Literatur mit dem Thema zu befassen.
Oder anders, deutlich schöner, ausgedrückt:

„Nichts verscheuchte böse Träume schneller als das Rascheln von bedrucktem Papier.“ (Cornelia Funke)

Unklar ist aber immer noch, was denn Digitalisierung jetzt genau ist, oder hast Du Dich erstmal hingesetzt und die Bücher gewälzt? Nein? Ach…

Und damit kommen wir schon zur These 1, was es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit braucht:

These 1: Gelingende Digitalisierung braucht klare Erwartungen

Was ist New Work? Was ist Innovation? Jede:r hat zu diesen Begriffen Bilder im Kopf, jede:r kann etwas zu dem Thema sagen und kann – meinungsstark – seine eigene Position vertreten. Und bei Digitalisierung ist es genauso:

Jede:r hat eine Vorstellung dessen im Kopf, was „Digitalisierung“ bedeutet.

Das ist super, wenn man den Party-Smalltalk am Laufen halten will:

„Und, wie steht es um die Digitalisierung in Eurer Einrichtung?“

Da flutscht das Gespräch!

Und aller Wahrscheinlichkeit nach versteht man sich auch gut, da die Diskussion von A wie Algorithmen bis Z wie Zukunft mäandern kann, ohne an der ein oder anderen Stelle über die Ufer treten zu müssen.

In Workshops zur Entwicklung von Digitalstrategien nutze ich zu Beginn gerne die Übung, dass jede:r einmal „sein“ Digitalisierungsalphabet aufschreibt: A wie Alphabet, B wie Bits und Bytes, C wie Computer, D wie Datenverlust… Dabei wird deutlich, dass jede:r sehr eigene und häufig sehr andere Erwartungen an das hat, was Digitalisierung im Allgemeinen und im Spezifischen bezogen auf die eigene Organisation ist bzw. bringen soll.

Wenn jedoch die einen die Hoffnung von Digitalisierungsbemühungen auf die Vereinfachung bestehender Prozesse (bspw. zur Pflegedokumentation) legen, sich die anderen endlich mal für die Employer Branding Kampagne in Social Media vertreten sehen wollen und die Dritten neue, digitalisierte Geschäftsmodelle oder die sinnvolle Nutzung sog. „künstlicher Intelligenz“ erhoffen, wird es schwierig, ein gemeinsames Verständnis, geschweige denn eine gemeinsame, sinnvolle, umsetzbare Strategie zu entwickeln.

Hinzu kommt, dass die verschiedenen Erwartungen an „die Digitalisierung“ nur zu enttäuschen sind, sofern diese nicht vorab geklärt werden.

Was kann getan werden?

Entsprechend ist dies der erste Schritt: Es sind die Erwartungen an die Digitalisierungsbemühungen zu klären. Darüber kann partizipativ ein gemeinsames Verständnis dessen geschaffen werden, was durch „die Digitalisierung“ ganz spezifisch in der eigenen Organisationen erreicht werden soll und kann.

Dieses „kann“ ist relevant, denn: Möglich ist vieles, realistisch umsetzbar deutlich weniger und funktional für die Organisation sind vielleicht nur wenige, kleine Schritte, die aber echte Veränderung im Kleinen bewirken.

Die kleinen, häufig nicht für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen sichtbaren Fortschritte sind immer wieder zu kommunizieren, damit nicht der Eindruck entsteht, „viel Lärm um nichts“ zu machen.

These 2: Gelingende Digitalisierung braucht ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung durch Digitalisierung

Digitalisierung formalisiert – immer! Klingt komisch, ist aber recht einfach erklärt:

Die Einführung eines Messengers zur Kommunikation mit den Klient:innen kann nicht der Entscheidung einzelner Organisationsmitglieder und ebensowenig der Entscheidung einzelner Teams oder Organisationseinheiten überlassen werden. Genauso kann nicht jedes Team, bspw. in der ambulanten Pflege, individuell entscheiden, ob sie Programm X oder Y zur digitalen Dokumentation nutzen oder ob sie doch lieber weiterhin analog, mit Stift und Papier, dokumentieren.

Digitalisierung erfordert formale Entscheidungen, die Gültigkeit für die Gesamtorganisation besitzen.

Richtig spannend wird es beim Dokumentenmanagement: Sofern die Organisation einheitliche, formal vorgegebene Prozesse der Pflege, Bearbeitung, Ablage usw. von Dokumenten anstrebt, sind alle (!) Mitarbeiter:innen gefordert, die Vorgaben einzuhalten.

Das ist mehr als nervig, wenn es vorab eine „Kultur der dominierenden Informalität“ gab und jede:r irgendwelche Dokumente irgendwie ändern und irgendwo „ablegen“ konnte.

Zur Erläuterung: Informalität lässt sich als das „Netzwerk bewährter Trampelpfade, die in Organisationen immer wieder beschritten werden“ (Kühl, 2010) definieren.

Eine Kultur der dominierenden Informalität bedeutet entsprechend, dass die Einhaltung formaler Vorgaben als weniger wichtig erachtet wird als das Netzwerk der bewährten Trampelpfade bzw. die erwarteten, spontanen, individuellen, nicht formal geregelten und damit eben informellen Entscheidungen von Individuen und Teams.

Meine These ist, dass eine Kultur der dominierende Informalität in sozialen Organisationen vorherrschend ist und diese Kultur Veränderungsbemühungen erschwert.

Überspitzt formuliert wird erwartet, dass Mitarbeiter:innen und Teams spontan, aus Erfahrung und Intuition, basierend auf den eigenen Vorlieben und „gefühlten Notwendigkeiten“, anstatt basierend auf Vorgaben der Organisationen, festgelegten Prozesse oder gar „Ansagen von oben“ zu agieren.

Um nur ein Beispiel zu nennen, zeigt sich die dominierende Informalität in der verhältnismäßig geringen Bedeutung eines standardisierten Qualitätsmanagements in sozialen Organisationen. Ohne hier in die Tiefe zu gehen, weist bspw. Grunwald darauf hin, dass Vorstellungen eines rein standardisierten Qualitätsmanagements dazu führen, dass QM als die notwendigen informellen Handlungsspielräume beschneidend erlebt wird und die Befürchtung besteht, dass Strategien und Verfahren „zu sinnentleerten Qualitätsmanagement-Routinen werden, womit die potentiellen Chancen einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Qualitätsmanagement und seiner möglichen Bedeutung für die eigene Organisation verspielt werden“ (2018, 618).

Meine These der „dominierenden Informalität sozialer Organisationen“ findest Du tiefer ausgearbeitet unter dem Link.

Aber:

Die Informalität (im Gegensatz zur Formalität) sozialer Organisationen muss nicht immer schlecht sein. In vielen Fällen ist informelles Handeln hoch funktional, insbesondere für soziale Organisationen:

Die Komplexität sozialer Arbeit erfordert spontane Entscheidungen, ein hohes Maß an intrinsischer Motivation, kreatives und individuelles, auf Beziehung setzendes Vorgehen. Entsprechend sinnvoll sind „agile Organisationsdesigns“ oder die Entwicklung selbstbestimmt agierender Teams in und für soziale Organisationen.

Aber eine Kultur, in der die Erwartung des Treffens individueller Entscheidungen vor der Erwartung des Einhaltens von allgemeingültigen, organisationalen Regeln steht, passt eben nicht zur immer formalisierenden Digitalisierung.

Was kann getan werden?

Zunächst einmal ist relevant, Informalität als existente Rahmenbedingung in sozialen Organisationen zu akzeptieren. Ganz allgemein formuliert kann nicht „alles“, jeder Handlungsschritt in Organisationen formalisiert werden.

Und spezifisch in der sozialen Arbeit ist der Versuch, dieses zu tun, an vielen Stellen dysfunktional. Man muss sich nur einmal den „Dienst nach Vorschrift“ in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung vorstellen, in der es nur wenige Vorschriften (für die Mitarbeitenden) geben kann.

Ebenfalls notwendig ist es, Digitalisierungsbemühungen aus der Brille der mit der Digitalisierung zwangsläufig einhergehenden Formalisierung zu betrachten. Es können nicht alle Mitarbeiter:innen mitentscheiden, welche Kommunikationsplattform verwendet wird. Ebenso kann, bspw. bei digitaler Dokumentation nicht mehr individuell entschieden werden, wer was wie dokumentiert. Eingabemasken sind vorgegeben und auszufüllen, ob man will oder nicht.

Über diese beiden Vorüberlegungen der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsweise sollten die Mitarbeiter:innen informiert werden. Dadurch kann grundlegend ein zumindest besseres Verständnis geschaffen werden, was Digitalisierung sozialer Organisationen im Allgemeinen und im Spezifischen für die eigene Organisation bedeutet und welche Implikationen für die eigene Arbeit mit Digitalisierung einhergehen.

Information allein ist jedoch nicht ausreichend. Es bedarf basierend auf der Information dann der gemeinsamen Auseinandersetzung in der Organisation über die Auswirkungen. Es wird Menschen in der Organisation geben, die die Entwicklung begrüßen, Menschen, die die Entwicklung hinnehmen und Menschen, die sehr kritisch auf die Digitalisierungsbemühungen schauen.

Und nein, ich plädiere nicht dafür, „alle Menschen mitzunehmen“. Das wird nicht gelingen. Aber das Wahrnehmen auch der kritischen Stimmen in der Organisation ist wichtig, um gute Wege sinnvoller Digitalisierung zu beschreiten.

These 3: Gelingende Digitalisierung braucht unternehmerische Kompetenz

Nein, jetzt erfolgt kein Bashing der „ach so innovationsfeindlichen Sozialwirtschaft“ und ebenso kein Verweis auf die Unbeweglichkeit der „großen Tanker“. Das ist nämlich nicht so: Sozialwirtschaft ist und war schon immer hochgradig innovativ. Und unternehmerisch, wenn unternehmerisches Handeln verstanden wird als „mit wenigen Mitteln Großes zu leisten“.

Insbesondere sehe ich unternehmerische Kompetenzen bei den Führungskräften, Vorständen, Geschäftsführungen der Organisationen.

Ja, es mag manche geben, die immer noch an der „guten alten Zeit“ festhängen und die Asche anbeten, anstatt das Feuer weiterzugeben. Aber die Menschen, mit denen ich arbeiten darf, denken nach vorne, wollen etwas bewirken, Dinge im Sinne der ihnen anvertrauten Menschen voranbringen, Neues gestalten. Und das in hochgradig dynamischen, komplexen Umwelten unter den Rahmenbedingungen politischer Begrenztheiten und (zunehmend) bürokratisch agierender Kostenträger.

Ich vermisse hingegen unternehmerische Kompetenzen bei den Mitarbeiter:innen an der Basis.

Aber was genau verstehe ich unter „unternehmerischen Kompetenzen“, was haben diese mit stockenden Digitalisierungsbemühungen zu tun und vor allem: Warum sollten Mitarbeiter:innen an der Basis diese Kompetenzen nicht haben?

Unternehmerische Kompetenzen beziehen sich nicht nur auf die Fähigkeiten einer Person in Bezug auf „geschäftliche“ Aktivitäten, sondern ganz grundlegend auf Fähigkeiten, wie sie „auf die Welt“ schaut und mit dieser interagiert.

Im Gegensatz zu einer reaktiven Defizitorientierung geht es um die Entwicklung von Fähigkeiten, Chancen zu erkennen, kalkulierbare Risiken einzugehen, Innovationen voranzutreiben und Verantwortung zu übernehmen, um auch in Unsicherheit erfolgreich und „proaktiv“ agieren zu können.

Der Blick beispielsweise auf die Ausführungen zu Future Skills von Ehlers (2020) und im Spezifischen auf die Gruppe der „Organisationsbezogene Future Skills“ (Kompetenzen, die sich auf den Umgang mit der sozialen, organisationalen und institutionellen Umwelt beziehen) zeigt für mich das, was unter „unternehmerischen Kompetenzen“ gut gefasst werden kann. Ehlers beschreibt hier Fähigkeiten wie Sinnstiftung und Wertebezogenheit, die Fähigkeit, Zukünfte gestaltend mitzubestimmen, mit anderen zusammenzuarbeiten und zu kooperieren und in besonderer Weise kommunikationsfähig, kritik- und konsensfähig zu sein. So ist – als nur ein Beispiel – Zukunftskompetenz „die Fähigkeit mit Mut zum Neuen, Veränderungsbereitschaft und Vorwärtsgewandtheit die derzeit gegebenen Situationen in andere, neue und bisher nicht bekannte Zukunftsvorstellungen weiterzuentwickeln und diese gestalterisch anzugehen“ (ebd., 94ff).

Unternehmerische Kompetenzen beinhalten Kompetenzen wie Innovations-, Führungs-, Kollaborations- und Kommunikationskompetenz. Aber auch Fähigkeiten wie Finanzwissen, Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen lassen sich unter die „unternehmerischen Kompetenzen“ fassen.

Ich will hier nicht zu sehr in die Tiefe gehen, empfehle aber eine Auseinandersetzung mit den Future Skills.

Warum aber braucht es die hier angerissenen Kompetenzen für erfolgreiche Digitalisierung?

Auch dies ist eine große Frage, die sehr kurz beantwortet werden kann: Das sinnvollste Vorgehen zur Gestaltung einer dynamischen und komplexen Welt (egal, ob auf individueller Ebene, auf Ebene von Teams und Organisationen oder auf Ebene der Gesellschaft und der Welt als Ganzes) besteht im Experimentieren und Lernen. Nur durch das Ausprobieren des Neuen und das Lernen aus den gemachten Erfahrungen ist es möglich, sich Schritt für Schritt in die erwünschte Richtung, bspw. hin zur „digitalen Vision“ der eigenen Organisation, vorzutasten. Dieses aus dem agilen Management bekannte, „iterative Vorgehen“ wurde inzwischen an den verschiedensten Stellen ausführlich beschrieben.

Und dieses iterative Vorgehen findet sich auch im Denken und Handeln erfolgreicher Unternehmer:innen. Wiederum ohne zu tief einzusteigen findet sich unter dem Vorgehensweise „Effectuation“ eine anwendbare Logik, wie Unternehmer:innen „ins Handeln kommen“ und gleichzeitig Risiken minimieren, Partnerschaften eingehen und Zufälle nutzen.

Die unternehmerische Logik „Effectuation“ verbindet die unternehmerischen Kompetenzen mit den Notwendigkeiten des iterativen Vorgehens zur Gestaltung der Digitalisierung.

Aber warum vermisse ich diese Herangehensweise bei den Mitarbeiter:innen an der Basis sozialer Organisationen?

Dazu ist vorab zu konstatieren, dass das Problem nicht bei den Individuen liegt, sondern vielmehr als strukturelles Problem verstanden werden muss:

Da Soziale Arbeit im Wesentlichen kostenträgerfinanziert ist, bestehen wenige Anreize, „unternehmerisch“ zu agieren. Nur ein paar Gründe: Es besteht, insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels, nicht die Notwendigkeit, a) durch bessere Angebote neue „Kunden“ zu gewinnen. Außerdem besteht kaum Anreiz, b) „möglichst gute“, wirksame Soziale Arbeit zu leisten, damit die eigene Organisation weiterempfohlen wird. Hinzu kommt, dass c) die Vergütung Sozialer Arbeit in den meisten Fällen auf Tarifverträgen basiert, die wiederum wenig Anreize schaffen, besonders innovativ, überdurchschnittlich gut oder besonders effizient zu arbeiten. Und nein, der völlige organisationale und individuelle Burnout (spannend dazu der aktuelle Bericht der DAK) aufgrund schlechter Rahmenbedingungen (ausgelöst insbesondere durch den Fachkräftemangel) ist keine Effizienz. Hinzu kommt, dass d) das für gelingende Digitalisierung notwendige iterative Vorgehen, das Experimentieren und Lernen, den Finanzierungsbedingungen der Kostenträger zuwiderläuft – in der Regelfinanzierung ebenso wie (zumindest offiziell) in der Finanzierung innovativer Projekte (deren Anschlussfinanzierung oftmals völlig unklar bleibt).

Kurz: Die strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft laden nicht dazu ein, unternehmerisch zu agieren. Und die angesprochenen Punkte a) – d) sind alles andere als abschließend. Sie verdeutlichen nur, dass fehlende unternehmerische Kompetenzen – wie so oft – kein ausschließlich individuelles Problem sind.

Und der Blick in die Zukunft zeigt aktuell sehr dramatisch, dass die Rahmenbedingungen alles andere als besser werden. Die Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 sprechen hier eine deutlich düstere Sprache. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bringt es auf den Punkt: „Die Pläne zwingen zu massiven Einschnitten bei sozialen Angeboten: von Freiwilligendiensten über die psychosoziale Versorgung Geflüchteter bis hin zur Unterstützung Arbeitsuchender.“ Marc Groß, Vorstandsvorsitzender der Liga-BW, sagt: „Sollten die Kürzungen wie vorgeschlagen beschlossen werden, trifft dies genau die Menschen, die es jetzt bereits am schwersten haben: Kinder, Jugendliche und Familien, Menschen in Armut, geflüchtete und zugewanderte Menschen“.

Und konkret im Kontext der Digitalisierung sind Einsparungen in Höhe von 3,5 Mio. Euro vorgesehen, die das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgesetzte Förderprogramm zur Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege durch Digitalisierung komplett aushebeln: „Hier werden die Verbände mitten im Aufbruch und in wichtigen strategischen Entwicklungen stark beeinträchtigt“, so die BAGFW.

Die Mitarbeiter:innen an der Basis aber sind nicht „geschult“ darin, Probleme „selbst in die Hand“ zu nehmen. Noch einmal: Das ist kein individueller Vorwurf, sondern strukturell bedingt. Und gleichzeitig ist es es relevant, genau hinzuschauen:

Das Jammern über schlechte Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, den Staat, die Politik, die da oben und diesdas hilft (und ist wirklich relevant) für die eigene Psychohygiene, verbessert die Situation aber nicht. Es gilt vielmehr, die eigene Freiheit zu nutzen. Und diese Freiheit ist in Organisationen mit der oben beschriebenen „dominierenden Informalität“ alles andere als klein. Denn gerade in dezentral organisierten, hochgradig komplex strukturierten Organisationen der Sozialwirtschaft ist vor Ort, im Team und oftmals auch völlig individuell zu entscheiden, was notwendig und möglich ist:

Es ist vor Ort zu entscheiden, welche Strukturen, Prozesse, Innovationen, Angebote und Dienstleistungen sinnvoll und machbar sind. Es ist vor Ort zu entscheiden, wie das Team miteinander möglichst gut arbeiten kann. Das für die strategische Ausrichtung der Organisation notwendige Gesamt-Leitbild ist vor Ort zu operationalisieren und anzupassen, damit die konkreten Bedingungen vor Ort in den Blick genommen und bedarfsgerecht im Sinne der Nutzer:innen gestaltet werden können. Die oberste Führungsebene hat – völlig nachvollziehbar – oft keinen Einblick in die notwendigen Bedarfe vor Ort.

Wir waren ja beim Thema Digitalisierung, Du erinnerst Dich? Da gilt das Gleiche:

Trotz der notwendigen Formalisierung durch Digitalisierung ist es nur vor Ort möglich, die für die Digitalisierung notwendigen iterativen Experimente zu starten bzw. gesamtorganisationale Experimente für vor Ort zu adaptieren und aus diesen zu lernen, damit Digitalisierung gelingen kann.

Was kann getan werden?

Der erste Punkt ist der weitere Kampf (leider muss dieser Begriff benutzt werden) um die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft. Lobbyarbeit, die Verständigung mit den Kostenträgern über die komplexen Bedingungen sozialer Arbeit, wirksame Öffentlichkeitsarbeit für die Anliegen und die Bedeutung sozialer Dienstleistungen sind heute wichtig und werden in Zukunft wichtiger.

Aber auch wenn die Rahmenbedingungen das wesentliche Problem darstellen, brauchen wir mehr sichtbare Beispiele von Menschen, die mutig neue Wege beschreiten und unternehmerisch Innovationen vorantreiben.

Mir fallen hier viele Menschen ein, die Beispiel für gelingendes Unternehmertum sein können. Hier nur drei Beispiele:

  • Die Diakonie An Sieg und Rhein entwickelt mit der integrierten Sozialberatung die Sozialberatung der Zukunft. Dabei arbeiten Berater:innen mit verschiedenen inhaltlichen Spezialisierungen kollaborativ in Echtzeit mit Klient:innen zusammen. Patrick Ehmann, Geschäftsführer der Diakonie An Sieg und Rhein berichtet hier im Podcast vom aktuellen Stand der Entwicklungen des neuen Beratungsansatzes.
  • Bei der SozKom GmbH unter Leitung der beiden Geschäftsführerinnen Kathrin Stern und Rita Resch hat ein eigenes organisationales Betriebssystems – die „sozKomKratie“ – entwickelt und strukturiert sich anders. Das führt bspw. dazu, dass sich die Organisation keine Sorgen um Fachkräftegwinnung machen muss. Mehr dazu kannst Du hier im Podcast anhören.
  • Thomas Mampel beschreibt in seinem aktuellen Blogbeitrag das vom Stadtteilzentrum Berlin-Steglitz entwickelte kleine, aber sehr feine Projekt „Mobile Lernwerkstatt Demokratie“. Mit Koffern voll mit Moderations- und Workshopmaterial führen die Kolleg*innen spannende Projekttage zur aktuell mehr als relevanten Demokratieförderung an Schulen und in Kinder- und Jugendprojekten durch.

Ich will damit sagen, dass es die „Intrapreneur:innen“ in sozialen Organisationen braucht und gibt.

Intrapreneur:innen sind Mitarbeitende, „denen die Balance zwischen dem persönlichen Einsatz für die eigenen – von der hegemonialen Norm in ihren jeweiligen Organisationen abweichende (!) – Werte und Ideale auf der einen und der Anpassung an die institutionalisierten Settings, in denen sie agieren, auf der anderen Seite gelingt“, wie Hannes hier im Blog schreibt.

Entsprechend gilt es, in sozialen Organisationen, die Intrapreneur:innen, die Menschen, die neue Wege ausprobieren wollen, lebendig werden zu lassen. Das klingt leichter, als es ist. Einige Taktiken für Intrapreneur:innen beschreibt Hannes hier in diesem lesenswerten Beitrag.

Darüber hinaus ist es relevant, dass in Studium und Ausbildung die Entwicklung neuer Wege in der Unsicherheit, das Experimentieren und Lernen als Voraussetzung für gelingende Digitalisierung, viel stärker und in der Breite verankert werden muss. Nur so lassen sich die heutigen und zukünftigen Herausforderungen meistern.

Der Blick in die Ausbildungslandschaft zeigt, dass es an vielen Stellen in Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen bereits tolle Projekte gibt, die „unternehmerische Kompetenzen“ fördern. Über diese Projekte muss es gelingen, die berufliche Identität der Menschen an der Basis dahingehend zu erweitern, dass sich diese Menschen nicht „nur“ als Anwält:innen für ihr Klientel, sondern auch als Entre- oder Intrapreneur:innen für die Entwicklung der Angebote, der Teams und Organisationen und damit als Anwält:innen des Sozialen verstehen.

Fazit: Digitalisierung muss gestaltet werden

Mal wieder ein viel zu langer Blogbeitrag. Aber vielleicht hast Du bis hierher durchgehalten. Also nur noch einmal kurz:

Jeder und jedem ist inzwischen bewusst, dass gelingende Digitalisierung mehr braucht als Technik. Gelingende Digitalisierung braucht

  • klare Erwartungen,
  • ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung und
  • unternehmerische Kompetenz.

Und noch viel mehr, aber der Beitrag ist sowieso schon viel zu lang…


Wie steht es bei Dir persönlich und in Deiner Einrichtung um die drei hier beschriebenen Thesen? Stimmst Du zu? Oder wo siehst Du es anders? Lass es mich gerne wissen, als Kommentar hier im Blog, als Mail oder als Kommentar in den sozialen Medien. Freue mich, von Dir zu lesen.

Resonanz, Exnovation und Kooperation, oder: Das Ende des Business as usual für die Zukunft der Sozialwirtschaft

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Beendigung der Armut. Beseitigung der eklatanten Ungleichheit. Ermächtigung der Frauen. Dies sind die drei der fünf „außerordentlichen Kehrtwenden“, die laut dem neuen Bericht an den Club of Rome „Earth for All“ (vgl. Dixsons-Declève et al., 2022) notwendig sind, um die Risiken der Klimakatastrophe substanziell zu reduzieren. Angeführt werden darüber hinaus der Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems und der Einsatz sauberer Energie, um die Menschheit zu retten.

Der Anspruch Sozialer Arbeit

Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen – dies könnte gut eine anspruchsvolle Mission einer sozialen Organisation oder eines Wohlfahrtsverbands sein: Welt retten, um die Menschheit zu retten – reduziert auf das Machbare.

Das lässt den Anspruch Sozialer Arbeit erkennen: Soziale Arbeit will die Lebenswelt der Menschen, für die soziale Organisationen die (Mit-)Verantwortung tragen, besser machen, was auch beim Blick auf die Internationale Definition Sozialer Arbeit (vgl. DBSH, 2016) deutlich wird:

Soziale Arbeit fördert „gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. (…). Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern“.

Soziale Arbeit hat sich viel vorgenommen! Es stellt sich die Frage, ob wir – jede*r Einzelne, unsere Organisationen und die Soziale Arbeit als Ganzes – diesem Anspruch in der Vergangenheit gerecht wurden und in der Zukunft gerecht werden können.

Vergangenheit und Zukunft, oder: Das Ende des Business as Usual

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als „wahre Erfolgsgeschichte“ (Merten, 2001, 165) erzählen. Hans Thiersch spricht vom letzten Jahrhundert gar als „sozialpädagogisches Jahrhundert“ (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die Soziale Arbeit“ weiterentwickelt. Aber fördert sie wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen? Da können Zweifel aufkommen.

Und der IW-Kurzbericht „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“ (Hickmann, Koneberg, 2022) zeigt, dass Berufe in den Bereichen Sozialarbeit / Erziehung / Pflege schon heute besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind. Das spüren die Beschäftigten an allen Ecken. Soziale Organisationen bewegen sich in den uns alle betreffenden Polykrisen (vgl. bspw. Scharmer, 2022) am Rande der Belastungsgrenze.

Für die Gestaltung der Zukunft ist da wenig Platz, denn wenn man linear in die Zukunft sozialer Organisationen blickt, ergibt sich folgendes Bild:

Angesichts demographischer Entwicklungen steigt der Gesamtbedarf an personenbezogenen Dienstleistungen bei gleichzeitig abnehmender Anzahl an Erwerbstätigen. Herausforderungen wie Digitalisierung, Energiekrise, Krieg, Klimakatastrophe kommen hinzu.

Wenn es weitergeht, wie bisher, können die Belastungsdämme der Organisationen und der Sozialwirtschaft nicht mehr lange standhalten.

Die triviale Folgerung aus diesem kurzen Überblick muss lauten (und nach Innen und Außen lauter werden):

 Ein „Weiter so!“, ein „Business as usual“ kann und wird nicht mehr funktionieren. Es braucht „Transformation hin zum Neuem“!

Aber wie sieht das Neue aus? Und vor allem: Wie kann die Transformation dorthin gelingen?

Um diese Fragen spezifisch für soziale Organisationen zu beantworten, lohnt es sich, ausgehend von den Kehrtwenden des Club of Rome, den Blick zu weiten: Wie kann Transformation auf globaler Ebene gelingen und was lässt sich daraus für soziale Organisationen lernen und adaptieren?

Gemeinsam Spüren, oder: Echte Transformation braucht neues Lernen

Im Folgenden wird eine von drei notwendigen Veränderungen herausgegriffen, die angesichts der aktuellen Krisen erforderlich sind, um die Forderungen des Club of Rome auf der systemischen Makroebene, also auf globaler, nationaler und/oder der Ebene der Funktionssysteme (Bildung, Politik, Gesundheit, Soziales…) umzusetzen:

Es braucht die Transformation des Lernens – weg von der Leistungs- und Prüfungsorientierung hin zur Entwicklung von Fähigkeiten zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen, ko-kreativen Gestaltung der Zukunft (vgl. Scharmer, 2022).

Der Gedanke, dass wir zur Bewältigung der globalen Krisen die Art, wie wir Lernen verstehen, ändern müssen, ist nicht neu: Bereits der im Jahr 1979 im Anschluss an den 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte Bericht des Club of Rome unter dem Titel „No limits to learning“ rückt explizit das Thema „innovative learning“ in den Vordergrund. Darunter ist ein Lernen zu verstehen, das Kreativität und effektive Kooperation ins Zentrum rückt (vgl. Göpel, 2022, 132). Über Neu-Lernen, die Entwicklung kreativer Fähigkeiten und Kooperation kann es gelingen, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

So wissen wir, was wir tun sollten, kommen aber oft nicht ins Handeln. Rechtliche, institutionelle und individuelle Abhängigkeiten hindern uns daran, gemeinsam neu zu Lernen und das Business as usual nicht nur ernsthaft infrage zu stellen, sondern wirklich anders zu agieren.

Aber wie können wir neu Lernen lernen und das kollektive Gefühl von „so kann es nicht mehr weitergehen“ transformieren in das Neue?

Dazu braucht es (vgl. Scharmer, 2022):

  • institutionelle Infrastrukturen, die alle relevanten Akteure zusammenbringen, um das System gemeinsam zu gestalten,
  • Führungsinstrumente und -kapazitäten, um das Bewusstsein der verschiedenen Akteure von einer Silo- zur Systemsicht zu verändern und
  • finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der oben genannten Maßnahmen.

Resonanz erzeugen, oder: Co-kreative institutionelle Infrastrukturen

Wir sind gefordert, in unseren Organisationen co-kreative institutionelle Infrastrukturen und damit Dialogräume zu gestalten, in denen es gelingt, Resonanz (vgl. Rosa, 2022) zwischen den Themen und den verschiedenen Akteur*innen zu erzeugen.

Resonanz meint a) die Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ (ebd., 57). Damit ist das Hören und Spüren des dezidiert Anderen, des Neuen gemeint – „und das kann durchaus irritierend sein“ (ebd., 59). Hier ist die Verbindung zur organisationalen Innovations- und damit Lernfähigkeit interessant: Für die Ermöglichung von Innovation ist es notwendig, „irritationsrelevante Informationen“ wahrzunehmen bzw. sich von diesen „anrufen“ lassen zu können.

Aus dem „angerufen werden“ folgt b) die Selbstwirksamkeit: „Ich stelle plötzlich fest, (…), dass ich in der Lage bin auf das Empfangene zu reagieren“ (ebd., 60). In Bezug zur organisationalen Innovationsfähigkeit gilt es, die irritierenden Informationen aus der Umwelt für die Organisation nutzbar machen zu können.

Aus der Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ und selbst wirksam zu werden entsteht dann c) die Möglichkeit echter Verwandlung bzw. Transformation:

„Da, wo Resonanz zustande kommt, wo ich wirklich aufhöre, und mich mit dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich“ (Rosa, 2022, 62).

Und genau darum geht es: Um Verwandlung, um Transformation, die als Abkehr vom Business as Usual das Neue, echte Innovation und tiefgreifende Veränderung ermöglicht.

Der Moment der Resonanz kann jedoch nicht gekauft, hergestellt oder erzwungen werden. Resonanz ist d) unverfügbar (vgl. ebd., 64). Und genauso ist es in Organisationen:

Appelle an die Mitarbeiter_innen, „jetzt aber mal innovativ zu sein“ oder das Erzwingen nicht resonanzfähiger „New Work Maßnahmen“ werden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ergebnislos verpuffen, wenn nicht echte, strukturelle Veränderungen erfolgen, die anderes Arbeiten nach sich ziehen.

Auf-Hören, oder: Systemische Führungsinstrumente und -kapazitäten

Im obigen Zitat irritiert das Wort „aufhören“. Rosa verbindet mit dem Auf-Hören das sich „anrufen und erreichen lasse[n] von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-Do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist“ mit dem gängigen Verständnis des Begriffs Aufhören im Sinne von „anhalten, stoppen“ (ebd., 56).

Beides ist wichtig: Zum einen gilt es, aufzuhorchen und sich von den irritierenden Informationen aus der Umwelt anrufen zu lassen, um daraus Neues zu gestalten. Zum anderen gilt es aber auch, aufzuhören und Aktivitäten zu stoppen, die keinen Mehrwert für die Menschen und die Organisation liefern.

Es lohnt die Beschäftigung mit Exnovation – der anderen Seite von Innovation: Exnovation heißt, dass Nutzungssysteme, Prozesse, Praktiken oder Angebote, die getestet und bestätigt wurden, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen, eingestellt werden (vgl. Epe, 2022). Exnovation heißt jedoch keinesfalls, in der Organisation eine Kultur der Nicht-Innovation zu propagieren. Exnovation, das Aufhören, die Abschaffung, das Beenden, gehört zur Innovation zwingend dazu – wie zwei Seiten einer Medaille.

Und hier sei mit Blick auf das „sozialpädagogische Jahrhundert“ die Frage gestattet: Wo haben wir im Sozialwesen erfolgreich Dinge nicht mehr getan, nicht (mehr) wirksame Angebote nicht weitergeführt und wirklich aufgehört, um so Raum für Neues zu schaffen?

Gleiches gilt institutionell: Anstatt grundlegende, strukturelle Barrieren zu beseitigen, die die Veränderung des Systems blockieren, versuchen wir, Menschen zu motivieren, „sich zu verändern“ und neue Methoden und Angebote zu schaffen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten. Echtes Lernen und damit Veränderung komplexer sozialer Systeme geschieht aber nicht, indem wir „mehr des Gleichen“ tun. Die Beseitigung struktureller Barrieren, das Weglassen, das Exnovieren ist oft der wirkungsvollste Hebel, um soziale Systeme und damit Organisationen in Veränderung zu bringen.

Veränderung bedeutet, etwas aus dem gewohnten Trott zu bringen. Es mag zwar oberflächlich beruhigend und entlastend sein, sich an Routinen und Business as usual zu klammern. Sinnvoller ist aber die Frage: Was von dem, was wir in unserer Organisation oder im Team tun, kann weg, womit können wir aufhören?

Bezogen auf Vorgaben in Organisationen hat sich zur Beantwortung der Frage die einfache Methode „Kill a stupid rule“ bewährt:

  1. In Kleingruppen sammeln die Beteiligten regelmäßig bestehende Regeln aus ihrer Organisation, die sie gerne abschaffen/ändern würden und notieren diese.
  2. Die Notizen werden vorgestellt und in ein Koordinatensystem eingruppiert: wenig bis sehr aufwändig und kleine bis große Wirkung.
  3. Ideen mit wenig Aufwand und großer Wirkung können direkt angegangen werden. Ideen mit mehr Aufwand kann man priorisieren und nach und nach umsetzen.

Eigentlich einfach, aber wir wissen auch: Das Auf-Hören fällt schwer – gesellschaftlich, organisational und individuell.

Kooperation, oder: Finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der Maßnahmen

So, wie in unseren Organisationen nicht eine Person allein „den Laden am Laufen hält“ lässt sich die Transformation der Gesellschaft nicht durch „den einen Hebel“ und damit losgelöst von anderen sozialen Systemen betrachten. Mehr noch:

„Kooperation war die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Lebens, und sie ist bis heute ein das Leben in all seinen Varianten begleitendes Phänomen geblieben“ (Bauer, 2006, 221).

Wollen wir die Zukunft des Sozialwesens gestalten und die Abkehr vom Ego- zum Eco-System und Möglichkeiten gestalten, „vom größeren Gesamtsystem aus zu handeln“ (Scharmer, 2013, 220), müssen wir eine Kultur der Kooperation (wieder)beleben, auch wenn dies „ein radikaler Gegenentwurf zum neoliberalen und zum auf Verdrängungswettbewerb und Auslese aufbauenden darwinistischen Menschenbild [ist], das Ökonomie und Gesellschaft seit langer Zeit und heute noch prägt“ (Seliger, 2022, 119).

Kooperation erfolgt in vielen Fällen bereits zwischen sozialen Organisationen und zwischen unterschiedlichen Verbänden (auch wenn es hier ebenfalls Entwicklungsbedarf gibt). Aber gerade mit Blick auf die Finanzierung Sozialer Arbeit ist der Blick auf Kooperation hochgradig relevant:

Soziale Organisationen sind in ihrer Finanzierung im Wesentlichen abhängig von Sozialleistungsträgern. Entsprechend greift der isolierte Blick auf die institutionelle Transformation, auf innerorganisationale Veränderungsnotwendigkeit zu kurz – ohne damit zu sagen, dass innerhalb der Organisationen keine Veränderungen stattfinden sollten – da sie in der Finanzierung ihrer Leistungen abhängig sind von den Sozialleistungsträgern.

Eine Herausforderung der Verbindung von Sozialleistungsträgern auf der einen und sozialen Organisationen als Leistungserbringern auf der anderen Seite besteht aber darin, dass beide Systeme unterschiedliche binäre „Leitdifferenzen“ (Codes) aufweisen, anhand derer sich die Entscheidungen im jeweiligen System orientieren.

Soziale Organisationen wägen ihre Entscheidungen – sehr grob formuliert – anhand der Leitdifferenz „Helfen / nicht helfen“ (vgl. Kleve, 2007, 147) ab, wohingegen die Sozialleistungsträger ihre Entscheidungen anhand der Leitdifferenz „Rechtlich vorgegeben / nicht vorgegeben“ abwägen.

Daraus folgt, dass soziale Organisationen komplexe soziale Probleme anders angehen würden, wenn die Finanzierungsmöglichkeiten dies zuließen. So wird bspw. die Einbeziehung der Klient*innen und die Stärkung ihrer Autonomie und Selbstbestimmung in allen moderneren Methoden Sozialer Arbeit gefordert, deren Umsetzung jedoch in Teilen durch die Notwendigkeit konterkariert, sich an die Vorgaben der Sozialgesetze zu halten, um darüber die Finanzierung sicherzustellen.

Zur zukünftigen Sicherstellung einer sinnvollen Finanzierung ist es also notwendig, die Kooperation zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern deutlich zu steigern, um über den Dialog ein gegenseitiges Verständnis der Notwendigkeiten wirksamer Finanzierung herzustellen.

Außerdem ist in sozialen Systemen, großen wie kleinen, alles miteinander verbunden (vgl. Göpel, 2022, 36ff). Entsprechend muss der kooperationsfokussierte Blick über die Grenzen der Sozialwirtschaft hinaus geweitet werden: Kooperation muss auch verstärkt zwischen anderen Unternehmen und Funktionssystemen gestärkt werden, um Transformation zu ermöglichen.

Das Ausweiten der Kooperation vereinfacht wiederum das unverzichtbare „Sich-anrufen-lassen“ von anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten, die ergriffen werden können, um gelingende Zukunft zu gestalten.

Das Ende des Business as usual, oder: Mutige Visionen für die Zukunft der Sozialwirtschaft

Es muss nicht wiederholt werden, dass die Herausforderungen, denen sich soziale Organisationen heute und in Zukunft widmen müssen, massiv sind. Sie werden heute nicht absehbare Veränderungen erfordern. Einfache Antworten und Business as usual werden aber definitiv nicht funktionieren, auch wenn die Suche nach Sicherheit und Beständigkeit in einer hyperaktiven Welt allgegenwärtig ist. Aber es hilft nicht, angesichts der Dynamik und Komplexität der Herausforderungen den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gute in der aktuellen Situation: In allen Problemen (ver-)stecken sich auch Chancen, wenn wir lernen, mutige Visionen der Zukunft der Sozialwirtschaft in den Blick zu nehmen:

Mutige Visionen brechen mit dem Business as Usual. Sie helfen uns, die Gegenwart hinter uns zu lassen und damit neue Perspektiven einzunehmen.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und gehen an Ihren Arbeitsplatz. Dort muss über Nacht ein Wunder geschehen sein und es ist alles so, wie Sie es sich schon immer erträumt haben:

  • Woran bemerken Sie, dass sich etwas verändert hat?
  • Was sind die größten Unterschiede zu gestern?
  • Wie fühlt sich die Veränderung an? Was ist beglückend?
  • Mit welchem Bild würden Sie die neue Situation Ihrer Organisation darstellen?

Beginnen Sie, Ihre Vision mutig zu malen, denn

„Mut heißt nicht, keine Angst zu haben! Mut heißt nur, dass man trotzdem springt!“ (Sarah Lesch).


Quellen:

  • Botkin, J. W., Elmandjra, M., Malitza, M.: No limits to learning: bridging the human gap. 1st ed. Pergamon international library. Oxford; New York: Pergamon Press, 1979.
  • DBSH. Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. 2016. Download unter: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html. Abruf am 16.12.2022.
  • Dixson-Declève, S., Gaffney, O., Ghosh, J., Randers, J., Rockström, J., Espen Stoknes, P.:  Earth for all: ein Survivalguide für unseren Planeten. Übersetzt von Rita Seuß und Barbara Steckhan. 4. Auflage. München: oekom, 2022.
  • Epe, H.: Exnovation, oder: Verlernen allein reicht (oft) nicht! Download unter: https://www.ideequadrat.org/exnovation/. Download am 03.01.2023.
  • Göpel, M.: Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein, 2022.
  • Hickmann, H., Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht Nr. 67. Download unter https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2022/IW-Kurzbericht_2022-Top-Fachkr%C3%A4ftel%C3%BCcken.pdf. Download am 20.12.2022.
  • Kleve, H.: Postmoderne Sozialarbeit: ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2007.
  • Merten, R.: Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192, 2001.
  • Rosa, H.: Demokratie braucht Religion. München: Kösel-Verlag, 2022.
  • Scharmer, O.: Protect the Flame. Circles of Radical Presence in Times of Collapse. 2022. Download unter: https://medium.com/presencing-institute-blog/protect-the-flame-49f1ac2480ac. Abruf am 15.12.2022.
  • Scharmer, O.: Theorie U – von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. 3. Aufl. Management. Heidelberg: Carl-Auer-Verl, 2013.
  • Seliger, R.: Systemische Beratung der Gesellschaft: Strategien für die Transformation. Erste Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2022.
  • Thiersch, H.: Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Hinweis: Der Text ist vorab (in leicht angepasster Version) in den „Blättern der Wohlfahrtspflege“, 3/23, veröffentlicht worden. doi.org/10.5771/0340-8574-2023-3-96!


Wider die Kindness Economy: Über Fachkräfte, Macht und die Zukunft von Organisationen

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Gerade bin ich über den Begriff der „Kindness Economy“ gestolpert: Organisationen versuchen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, um es damit „allen zu ermöglichen, bei der Arbeit so authentisch wie möglich zu sein“, wie es hier heißt. Ich bin da sehr skeptisch, denn ich glaube, dass wir damit – ausgelöst durch den Fachkräftemangel – in ein neues Problem laufen, das ich als „Machtverschiebung von Organisationen zu den Menschen“ bezeichnen und hier beschreiben will. Außerdem will ich versuchen, ein paar Ideen zu liefern, wie diesem Problem begegnet werden kann.

Früher kein Gedöns: Die Macht von Organisationen über Menschen

Nur kurz: Dass es einen Fachkräftemangel gibt und zunehmend geben wird, ist seit etwa 50 Jahren bekannt. Entsprechend verwundert mich, dass dieses Thema erst jetzt in den Organisationen anzukommen scheint. Wir verschließen so lange die Augen, bis die Probleme massiv werden und kaum noch abzuwenden sind – Klimawandel, ick hör dir trapsen!

Historisch betrachtet hatten Organisationen die Macht. Das hängt mit der Bevölkerungsentwicklung zusammen.

Denn zwischen 1871 und 1910, also während der Hochphase der Industrialisierung in Deutschland, stieg die Bevölkerung von 41 Millionen auf 65 Millionen Menschen an, was einem Wachstum von 58 Prozent entspricht (klick).

Und nach der Industrialisierung setzte sich das Bevölkerungswachstum in Deutschland fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Deutschland zu einem Wachstumsland, und die Bevölkerungszahl stieg von 69,3 Millionen im Jahr 1950 auf rund 83,1 Millionen Menschen im aktuellen Zeitraum an (klick).

Neben sozialen Ungerechtigkeiten, Überbevölkerung in den Städten, mangelhaften Wohnbedingungen usw. führte das Bevölkerungswachstum vor allem zur Möglichkeit der Ausbeutung von Arbeitskräften. Arbeiter:innen, einschließlich Frauen und Kindern, arbeiteten lange Stunden, oft unter gefährlichen Bedingungen, für geringe Löhne. Es gab kaum Arbeitsschutzgesetze oder Gewerkschaften, die die Rechte der Arbeiter:innen schützten, was zu Ausbeutung und schlechter Arbeitsplatzsicherheit führte.

Auch wenn in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank soziale Sicherungssysteme eingeführt wurden, saß (und sitzt immer noch) die Angst vor dem sozialen Abstieg durch den Verlust des Arbeitsplatzes mit am Fließband, am Schreibtisch, an der Werkbank oder zumindest im Nacken.

Extrem formuliert war diese kurze, historisch sicherlich etwas unterkomplex dargestellte Entwicklung für Organisationen sehr praktisch:

Geringe Kosten in Kombination mit einem großen Angebot an Arbeitskräften, die noch dazu Angst hatten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, führten zu dicken Gewinnen (für ein paar Wenige). Außerdem musste man sich wenig Gedanken zu guten Arbeitsbedingungen, Work-Life-Balance, New Work Schnickschnack und sonstigem Gedöns machen.

Entsprechend wurden Organisationen und die Art, wie wir auch heute noch zusammen arbeiten, gestaltet:

Menschen waren Zahnrädchen, die bei zu geringer „Performance“ ausgetauscht wurden, Organisationen wurden als „Maschinen“ gedacht, gesteuert und entwickelt und die Sozialisation für dieses System wurde befeuert durch ein Bildungssystem, das auf „Ab-Teilung“, eine Klassengesellschaft, Benotung, Strafe, Druck, Befehl und Gehorsam gesetzt hat.

Jaja, ich weiß, etwas übertrieben. Aber im Kern ganz passend:

Die Organisationen hatten die Macht.

Heute Kindness Economy: Die Macht der Menschen über die Organisationen

Heute stehen wir aber – angesichts der absehbaren demographischen Zahlen wenig überraschend – an einem Kipppunkt in die andere Richtung:

Die Macht wandert von den Organisationen zu den Mitarbeiter:innen. Diese können sich aussuchen, wann, wie lange, zu welchen Konditionen und vor allem wo sie arbeiten. Im Kontext der Sozialwirtschaft ist dieses Phänomen extrem ausgeprägt, da die Organisationen nur wenige Möglichkeiten haben, auf Mitarbeiter:innen zu verzichten oder ihre Kernprozesse zu digitalisieren. Oder anders gesagt:

Wenn sich im Finanzamt die Akten bis zur Decke stapeln oder die Produktion von beheizbaren Lenkrädern aufgrund fehlender Mitarbeiter:innen stillsteht, passiert erst einmal – nichts! Wenn in einer Kita aber X Mitarbeiter:innen fehlen, wird die Gruppe geschlossen und die Kinder, die uns in Deutschland ja ach so viel Wert sind, eben nicht mehr begleitet.

Schlimmer stellt sich die Situation noch in stationären Wohnformen dar, da die dort lebenden Menschen nicht nur auf Unterstützung angewiesen sind, sondern die Einrichtungen oftmals ihre (teilweise einzige) Heimat sind.

Was Organisationen versuchen

Im Grunde könnte man jetzt ja glücklich sein:

Endlich müssen sich die Organisationen – egal welcher Branche – um ihre Mitarbeiter:innen bemühen. Obstkörbe sind obligatorisch, gratis Kaffee Standard und der Dienstwagen für die Auszubildenden ist flächendeckend nicht mehr fern, nur um auf Teufel komm raus Mitarbeiter:innen zu gewinnen und zu halten.

Angesichts dieser Entwicklungen steigen auch die Löhne, da die Mitarbeiter:innen (fast) unmittelbar wechseln, wenn es bei der Konkurrenz ein paar Euro mehr gibt.

Kurz: Organisationen verschieben ihren Fokus von ihrem Zweck hin zu den Mitarbeiter:innen. Nicht mehr die Kunden- oder Nutzer:innenorientierung ist handlungsleitend, sondern die Orientierung an den Mitarbeiter:innen bzw. den Betreuungsbedarfen ihrer Hunde, Katzen, Hamster, Omas, Kinder…

Warum sollte man – wenn man es sich denn leisten kann – unter diesen Bedingungen noch in Vollzeit arbeiten? Entsprechend werden Teilzeitregelungen normal, die nichts mit den ach so faulen Generationen, sondern mit den Rahmenbedingungen und damit den Möglichkeiten der jüngeren Generationen am Arbeitsmarkt zu tun haben.

Und auch hier wieder: Das ist doch grandios! Die Menschen können sich ihren Job so gestalten, dass dieser zu ihrem Leben passt (auch wenn diese Möglichkeiten die Situation für die Sozialwirtschaft verschärfen, da grundsätzlich in direkter Interaktion mit den Klient:innen gearbeitet werden muss und in vielen Arbeitsfeldern die Notwendigkeit von 24/7 Betreuung besteht).

Wenn sich also die Organisationen endlich an die Mitarbeiter:innen anpassen müssen, sieht es doch aus wie das Schlaraffenland, oder worin besteht das Problem?

Organisationen brauchen keine Menschen

Jaja, ich weiß, wieder eine völlig unterkomplexe Überschrift. Aber sehr grob betrachtet, trifft es das: Das Problem besteht darin, dass soziale Systeme und damit eben auch Organisationen nicht dafür gemacht sind, sich an Menschen bzw. den Mitarbeiter:innen zu orientieren.

Soziale Systeme sind dafür gemacht, einen Zweck zu verfolgen, ein Problem zu lösen, das durch einzelne Menschen allein nicht gelöst werden kann. Zwecke sind bspw. die Verwaltung von Steuergeldern, die Produktion von beheizbaren Lenkrädern, Gebet und Spiritualität, Bildung, das zur Verfügung stellen von Wohnraum, Lobbyarbeit oder, oder, oder…

Zuvorderst aber verfolgen Organisationen als Soziale Systeme das Ziel, zu überleben. Sie wollen, ganz lapidar, weiterhin bestehen bleiben – und zwar unabhängig von den ziemlich unzuverlässigen Menschen (im Sinne der Mitarbeiter:innen). Deswegen gibt es so etwas wie Stellen, Rollen, Hierarchien, Strukturen usw. die dafür sorgen, dass die Organisation auch dann weiterbesteht, wenn Menschen „das Unternehmen verlassen“.

Eine Organisation, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen kann (oder vollständig erfüllt hat), wird ebenso nicht mehr weiter bestehen können wie eine Organisation, die sich vollständig an den Menschen und ihren Bedürfnissen ausrichtet.

Und dies unabhängig von der Branche, in der die Organisation tätig ist.

Die Chance für „New Work“

Kurz auf den Punkt gebracht sind die Ausführungen ja nachvollziehbar: Es macht – unabhängig vom Fachkräftemangel – keinen Sinn, Organisationen und damit auch unsere Arbeit so zu gestalten, dass die 100%ige Effizienz herrscht, die Menschen wie Zitronen ausgepresst werden und einzig der Takt der Maschinen (oder vorgeschriebenen Prozesse) regiert.

Genauso wenig sinnvoll ist es aber, alles in einer Organisation ausschließlich auf die je individuellen und damit sehr vielfältigen Bedarfe der Mitarbeiter:innen auszurichten. Das wird Organisationen früher oder später zum Zusammenbruch führen.

Wie so oft gilt es, einen guten Mittelweg zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den Bedürfnissen der Organisationen zu finden.

Und hier kann aus meiner Sicht eine große Chance aus a) sinnvoller, zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsentwicklung und aus diesem b) „New Work“ im ursprünglichen Sinne erwachsen.

Möglichkeiten zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsentwicklung

Im Folgenden finden sich – sicherlich nicht abschließend – einige Ansätze, wie es gelingen kann, die Entwicklung der eigenen Organisation so voranzutreiben, dass die Bedürfnisse von Menschen und der Organisation berücksichtigt werden.

Verständnis über die Funktionsweisen von Organisationen als soziale Systeme

Grundlegend für die Möglichkeiten zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsentwicklung ist aus meiner Sicht ein Verständnis über die Funktionsweisen von Organisationen als soziale Systeme.

Die Entwicklung dieses „Organisationsbewusstseins“ schützt massiv vor Steuerungsphantasien, was insbesondere Führungskräften enorme Erleichterung verschaffen müsste: Sie haben den Laden nicht in der Hand, im Griff oder sonstwo. Organisationsentwicklung ist vielmehr, wie es Ruth Seliger sagt, der Versuch, die Organisation in die gewünschte Richtung zu verführen.

Daraus resultiert, dass es immer darum geht, Versuche im Hier und Jetzt zu machen, Experimente, mit denen man auf die Nase fallen kann, die aber auch gelingen und dann ungeahnte (positive) Auswirkungen haben können.

Wichtig bei dieser „agilen Organisationsentwicklung“ ist jedoch, immer wieder innezuhalten und zu prüfen, ob und welche Wirkungen die gemachten Veränderungen hatten und ob man sich damit auf dem angestrebten Weg befindet.

Vielfalt zulassen

Für die im Beitrag geschilderte Problematik des Ausbalancierens zwischen den Bedarfen der Organisation und den Bedarfen der Mitarbeiter:innen gilt es, Versuche zu machen, die das Ziel verfolgen, wegzukommen von der Vereinheitlichung hin zu einer möglichst hohen Vielfalt in der Organisation:

Team A ist anders als Team B, warum sollten die nicht anders arbeiten? Einrichtung Z liegt auf dem Land und arbeitet anders als Einrichtung Y in der Stadt. Ja, cool, warum nicht?

Diese Vielfalt fällt vielen Organisationen schwer, ist aber für Soziale Organisationen (hoffentlich) daily Business. Denn nur durch die Vielfalt auf Seiten der Einrichtungen kann den vielfältigen Bedarfen der Nutzer:innen auf der anderen Seite adäquat begegnet werden.

Mir gefällt an dieser Stelle das Bild eines Mischpults ganz gut:

Es gibt verschiedene Regler, die für die einzelnen Bereiche, Teams und Arbeitsfelder einer Organisation bezogen auf die jeweils geltenden Ziele, Strukturen und Prozesse unterschiedlich eingestellt sein können. Erst daraus, dass sie unterschiedlich eingestellt sind, ergibt sich der ganz spezifische Klang der Gesamtorganisation.

Gemeinsam entscheiden

Neben der Ermöglichung von Vielfalt gilt es außerdem, die Kompetenzen, Ideen, Erfahrungen und die Kreativität der Mitarbeiter:innen viel stärker als vielleicht bislang üblich in Entscheidungsfindungen mit einzubinden. Partizipation wird zwar oft groß geschrieben, endet aber genauso oft an der Realität.

Eine einfache Option zur echten Beteiligung der Mitarbeiter:innen ist die Arbeit mit der Konsent-Methode, die hier ausführlich beschrieben ist.

Und nein, die Entscheidungsfindung anhand der Konsens-Methode dauert nur gefühlt länger, wie bspw. hier in diesem Podcast erläutert wird.

Die Organisations-DNA beschreiben

Im gleichen Podcast sprechen die Gründerinnen der sozKom GmbH auch von der Entwicklung ihrer DNA. Darunter ist ein kurzes „Leitbild“ zu verstehen, das allen, internen wie externen, Stakeholdern vermittelt, was die Grundwerte der gemeinsamen Arbeit sind und wie in der Organisation zusammen gearbeitet wird.

Das Betriebssystem entwickeln

Diese „DNA“ oder das gelebte Leitbild ist auch die Grundlage für das gemeinsame „Betriebssystem“ der Organisation.

Dieses Betriebssystem beschreibt die basalen Regeln, nach denen gearbeitet und vor allem entschieden wird (siehe auch Konsent).

Dabei ist wiederum relevant, nicht irgendwelche Konzepte wie „Holocrazy“ oder das „Spotify Modell“ oder die „Orbit Organisation“ oder „so wie Buurtzorg“ auf die eigene Organisation zu stülpen, sondern die Individualität der Rahmenbedingungen der Organisation anzuerkennen und – genau – Vielfalt zuzulassen.

Nichts in Stein meißeln

Bei alle den Bemühungen der Entwicklung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationen geht es nicht darum, ein für allemal festzuzurren, was für die nächsten 300 Jahre gelten soll.

Durch die in der Organisation arbeitenden Menschen ebenso wie durch die sich verändernden Rahmenbedingungen, Megatrends, gesellschaftlichen Entwicklungen usw. verändert sich auch die Organisation.

Dieses „inspect and adapt“ sollte als Grundsatz jeglicher Entscheidungen rund um die Organisationsentwicklung gelebt werden. Daraus ergeben sich anpassungsfähige Teams und Organisationen.

Arbeiten

Die hier skizzierten „Schritte“ hin zu einer Organisation, der es gelingt, neben den eigenen auch die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen in den Blick zu nehmen, erfordern auf Seiten der Mitarbeiter:innen Mitarbeit.

Das klingt vielleicht irgendwie albern, ist aber wichtig: Führungskräfte wie die Mitarbeiter:innen müssen sich bewusst sein, dass die gemeinsame Entwicklung hin zu einer guten, lebenswerten und (über-)lebensfähigen Organisation nur in gemeinsamer Anstrengung gelingt. Dazu braucht es – ein Thema, an dem ich gerade persönlich hänge – das Commitment, sich auf diese Arbeit einzulassen. Oder die Entscheidung, andere Wege zu gehen.

Möglichkeiten von New Work

Selbstverständlich sind die Ausführungen zur Organisationsentwicklung nicht abschließend und alles andere als eine „Anleitung“, wie es rezepthaft gelingt, die Bedürfnisse von Menschen und Organisationen auszutarieren. Es sind Impulse, Ideen, Möglichkeiten.

Und etwas übergreifender will ich abschließend die aus dem ursprünglichen Konzept „New Work“ ausgehenden Impulse, Ideen und Möglichkeiten aufgreifen, um darüber zur Annäherung von Menschen und Organisationen zu kommen.

Macht das Sinn?

Die Ursprungsideen von New Work stellen im Kern nicht die Frage nach dem Menschen und dem, was dieser (also Du und ich) „wirklich, wirklich tun will.“

Die Ursprungsideen von New Work stellen die große Frage danach, ob unsere Art zu wirtschaften, ob der Kapitalismus in der existierenden Form, sinnvoll ist. Bergmann ging es um eine Alternative zum Lohnarbeitssystem und nicht um organisationalen Schnickschnack.

New Work ist damit radikal im besten Wortsinn: New Work geht an die Wurzel, an den Kern. Und dieser Kern lautet für mich:

Macht das Sinn?

Anders könnte man auch fragen: Ist das, was wir hier als Gesellschaft, als Organisation, als Team und das, was ich als Mensch tue, sinnvoll und wirksam?

Ich will hier gar nicht tief einsteigen, aber der Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen lässt mich oft mit einem dicken „WTF???“ zurück. Unsere Metakrisen Klima, Krieg, Individualisierung und Co. werden im eigenen Kleinklein beantwortet. Ideen, Visionen, Utopien einer echten Zukunft fehlen.

Und genauso sieht es in Organisationen aus. „Purpose-Diskussionen“ übertünchen den dahinterliegende Schimmel, ohne die Kernfrage zu stellen:

Macht das Sinn, was wir hier tun?

Wenn sich Menschen und Organisationen ernsthaft auf die Beantwortung dieser Frage konzentrieren, kommt es zwangsläufig dazu, dass Dinge, Angebote, Projekte weggelassen werden müssen. Weglassen ist aber nicht in uns Menschen angelegt. Wir wollen immer mehr, hinzufügen, addieren. Das funktioniert aber nicht mehr – aus Gründen von Klima und Co. ebenso wie aus Gründen von Fachkräftemangel.

Wenn wir – das ist ja das Thema des Beitrags – Menschen und Organisationen wieder zusammenführen wollen, müssen wir uns mit Exnovation befassen und einem „weniger, aber besser“. Auch wenn das auf den ersten Blick schmerzhaft erscheint.

Was will ich wirklich, wirklich tun?

Erst aus der Beantwortung der Sinnfrage ergibt sich die aktuell breitgetretene „New Work Frage“ danach, was die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“.

Die Frage ist wieder radikal, denn – mal ehrlich – eine Beantwortung ist kaum möglich.

Ich für mich kann sagen, dass das, was ich wirklich, wirklich tun will, von unfassbar vielen Faktoren abhängig ist, die sich je nach Tag, Stimmung, Wetter… immer wieder ändern.

Und losgelöst von mir persönlich pendeln Menschen in dem was sie wirklich, wirklich wollen, individuell irgendwo im „Pentagon“ (Fünfeck) zwischen Anerkennung, Sicherheit, Autonomie, Verbundenheit und Fairness – wie hier im SCARF-Modell beschrieben.

Wichtiger als eine Antwort auf die Frage ist damit eine Beschäftigung mit der Frage – ohne eine eindeutige Antwort zu erwarten.

Das erfordert die berühmte Ambiguitätstoleranz, die Kompetenz zum Umgang mit Widersprüchen und Mehrdeutigkeit.

Aus organisationaler Perspektive gilt es dann wieder, Ambiguitätstoleranzlernmöglichkeiten zu schaffen – Möglichkeiten, in denen sich die Menschen „in“ der Organisation mit den Widersprüchen zwischen ihnen als Personen und der Organisation befassen können und nicht gleich beim kleinsten Gegenwind oder beim nächstbesten Angebot der Konkurrenz von der Organisation abwenden.

Über dieses „Aushalten von Widersprüchen“ gelingt es dann vielleicht auch, dem näher zu kommen, was man wirklich, wirklich tun will…

Mehr als Kindness Economy, oder: Organisationen brauchen Menschen und Menschen brauchen Organisationen

Natürlich sind Organisationen auf Menschen angewiesen, auf Arbeitskräfte. Sie sind angewiesen auf die Persönlichkeiten, die Ideen, die Kreativität der Individuen. Genauso sind aber auch Menschen auf Organisationen angewiesen. Wer will bitteschön die Errungenschaften wegdiskutieren, die die Arbeitsteilung mit sich gebracht hat. Wer will zu einem „Heiler“ gehen, anstatt in ein Krankenhaus, in dem Expert:innen gemeinsam an echten Lösungen arbeiten? Wer will seine Kinder in Betreuungseinrichtungen geben, die nur „satt und sauber“ anstatt echte Bildung und Begleitung leben? Wer will im Alter vor sich hin vegetieren, anstatt von Profis gepflegt zu werden?

Kurz – wir brauchen beides:

Funktionierende Organisationen, die unabhängig von einzelnen Menschen ihren Zweck erfüllen und gleichzeitig die Bedarfe der Mitarbeiter:innen berücksichtigen und darüber zu lebenswerten „Ökosystemen“ werden.

Das erfordert zum einen gelingende Organisationsentwicklung zur Gestaltung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationen. Zum anderen erfordert es individuell und organisational die Auseinandersetzung mit dem Sinn, mit der Frage nach Wirksamkeit.

„Kindness Economy“ allein wird da nicht helfen.

4 Schritte zu einem lebendigen Innovationsmanagement

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Vor inzwischen 5 Jahren habe ich meine Master-Thesis zur Frage geschrieben, wie es Organisationen der Sozialwirtschaft gelingt, ihre Innovationsfähigkeit zu erhöhen. Es ging darum, organisationale Innovationskompetenz aufzubauen. Unter den Begriff der organisationalen Innovationskompetenz fallen dabei viele Aspekte, die ich – als Fazit der Arbeit – in zehn Thesen formuliert habe. Ich will diese hier nicht wiedergeben, sondern nur auf eine These eingehen. Diese These lautete: Organisationen der Sozialwirtschaft müssen ein Innovationsmanagement etablieren, das sowohl die Ebene des normativen, strategischen und operativen Managements als auch der Geschäfts-, Unterstützungs- und Vernetzungsprozesse abbildet.

Ich greife hier diese These auf, da mir immer wieder auffällt, dass es den Organisationen nach all den Jahren in der digitalen Transformation und angesichts der anstehenden Herausforderungen – allen voran der Etablierung echter ökologischer, aber auch sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit – immer noch schwerfällt, Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.

Viele Organisationen, Verbände, Bildungseinrichtungen und Kommunen verfügen nicht über ein System, in dem die Ideen, die bei den Mitarbeiter*innen gären, aber auch aus der Umwelt an die Organisationen herangetragen werden, so aufgegriffen werden, dass sie zu echten Innovationen – also umgesetzten Ideen – werden.

Innovation habe ich damals ganzheitlich definiert als die zielgerichtete Durchsetzung von neuen sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen, die darauf ausgerichtet sind, die Unternehmensziele auf eine neuartige oder bessere Weise zu erreichen.

Was ist Innovationsmanagement?

Zwischen Innovation und Management klafft eine Lücke: Innovation ist das Neue, das Unerwartete, oftmals das Zufällige. Innovation ist in den Worten von Wolf Lotter („Streitschrift für barrierefreies Denken“) „die Hoffnung, dass es besser wird.“

Diese Hoffnung lässt sich doch nicht managen, oder?

Mit Blick auf die Organisationen, die ich in meiner Arbeit begleite, ist es jedoch komplizierter: Sie sind ausgerichtet auf Stabilität. Das ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar und wichtig: Gerade die Arbeit mit Menschen braucht Zuverlässigkeit und Sicherheit. „Herumexperimentieren“ wird da zum (auch ethischen) Problem.

Hinzu kommt, dass sich soziale Organisationen in den 90er Jahren aufgrund gesetzlicher Anforderungen und ausgehend von Verwaltungsreformen – nicht freiwillig – ausgerichtet haben auf „neue Steuerungsmodelle“. Diese sind jedoch angelehnt an sehr klassische Vorstellungen von Management: Formale Hierarchien, Controlling und die heute immer noch vorherrschenden Vorstellungen von Qualitätsmanagement, Controlling, Prozessmanagement etc. sind Artefakte dieser Art der Organisationsgestaltung. Diese Art der Organisationsgestaltung wird jedoch in vielen Fällen von den Kostenträgern (Kommunen, Rentenversicherung etc.) eingefordert. Entsprechend sind neue Organisationsansätze immer unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu bewerten: Dürfen wir dies und jenes ausprobieren, ohne unsere wirtschaftliche Stabilität zu gefährden?

Ein Innovationsmanagementsystem dient vor diesem Hintergrund und unter den spezifischen Bedingungen sozialer Organisationen dazu, „neue Ideen zu entwickeln, zu fördern und einen Prozess zu gestalten, der ihre Durchsetzung sichert“ (Güntner, Langer, 2018, 823).

Wie aber kommen Sie zu einem (lebendigen und vor allem wirkungsvollen) Innovationsmanagement?

Dazu finden Sie im folgenden vier „Grundschritte“, die aus meiner Sicht unabdingbar sind:

1. Innovationsverständnis schaffen

Im Kern steht hier die Frage: Was ist Innovation für Ihre Organisation?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, die unterschiedlichen Innovationsarten und Innovationsgrade zu kennen und diese für die eigene Organisation zu spezifizieren. Hilfreich sind auch immer, die Ideen mit Beispielen zu hinterlegen, damit die Mitarbeiter*innen einen Vorstellung der Möglichkeiten haben.

Die oben angeführte Definition zeigt, dass Innovation auf den folgenden Ebenen ansetzt bzw. folgende Innovationsarten umfasst:

Produkt- bzw. Dienstleistungsinnovation: Entwicklung und Vermarktung neuer oder die Verbesserung bestehender Dienstleistungen.
Prozessinnovation: Entwicklung neuer oder Verbesserung bestehender Prozesse (die nach außen nicht zwingend sichtbar sind), die es ermöglichen, effektiver und/oder effizienter zu agieren.
Strukturinnovation: Entwicklung eines neuen oder die Verbesserung der bestehenden Organisationsstruktur mit dem Ziel der Steigerung der Wirksamkeit der Organisation.
Geschäftsmodellinnovation: Neuentwicklung oder Verbesserung der Art und Weise, wie Ihre Organisation seine Leistung erstellt, auf den Markt bringt und damit (finanzielle und soziale) Wertschöpfung generiert.

Relevant ist aber auch der Innovationsgrad. Hier kann unterschieden werden zwischen der:

  • inkrementellen Innovation, die einen bereits bedienten Markt betrifft und auf bekannten Vorgehensweisen aufbaut, es geht um Weiterentwicklung.
  • Entwicklung einer neuen Vorgehensweise, wobei der Zielmarkt aus Sicht der Organisation jedoch derselbe bleibt.
  • Entwicklung eines neuen Arbeitsfeldes mit bereits erprobten Vorgehensweisen.
  • radikalen Innovation, die sowohl ein neues Arbeitsfeld fokussieren und auf neuen Technologien/Vorgehensweisen basieren.

Sinnvoll zur Beantwortung der Frage, was Innovation für Ihre Organisation ist, ist die Beteiligung möglichst vieler Menschen der Organisation und auch externer Stakeholder. Dazu ist ein einführender Workshop sinnvoll, in dem die Notwendigkeit von Innovation dargelegt und die unterschiedlichen Möglichkeiten vorgestellt werden.

Ziel ist es, Innovationsarten und Innovationsgrade festzulegen und auf die Spezifika der Organisation anzupassen. Es macht hier auch Sinn, bereits laufende und geplante Projekte den Innovationsarten und – graden zuzuordnen.

2. Innovationsstrategie erarbeiten

Im zweiten Schritt ist ein Rahmen zu bestimmen, innerhalb dessen die innovativen Aktivitäten Ihrer Organisation stattfinden sollen (Innovationsfelder).

Weitere Schritte dieses Handlungsfeldes sind die Bestimmung von Zielen innerhalb des Rahmens sowie die Bestimmung des Vorgehens zum Erreichen der Ziele.

Mit diesen Entscheidungen sind die wesentlichen Eckpunkte einer Innovationsstrategie definiert.

Insbesondere sind folgende Fragen zu klären:

  • Wozu wollen wir Innovation?
  • Wo, in welchen Bereichen, wollen wir Innovation?
  • Was wollen wir neu gestalten oder verbessern?
  • Welche Ziele lassen sich daraus ableiten?
  • Wie wollen wir diese Ziele erreichen?
  • Was machen wir schon aktuell?

Hier wird deutlich, dass die Innovationsstrategie eng an die Organisationsstrategie andocken muss:

„Nur wenn ein Innovationsmanagement ein integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie ist, können die wichtigsten Phasen eines Innovationsprozesses (Ideengenerierung, Ideenpriorisierung, Konzeptualisierung, Implementierung) überhaupt an die entscheidenden Einflussfaktoren angebunden werden, an Organisation (organisationale Faktoren) und Mensch (personale Faktoren und Team)“ (ebd., 823f).

Strategie bedeutet aber auch, festzulegen, wo keine neuen Entwicklungen verfolgt werden. Bspw. lassen sich auch Geschäftsfelder finden, die zukünftig nicht weiter verfolgt werden sollen.

Hinsichtlich der Innovationsziele ist relevant, diese am Leitbild des Gesamtunternehmens zu orientieren. Unter Leitbild verstehe ich die Kombination aus Unternehmensvision, -mission, Werten und strategischen Stoßrichtungen. Diese Sichtweise basiert auf dem Framework OKR, in dem die Ziele nicht als smarte Ziele formuliert, sondern als „Mini-Visionen“ mit Key Results hinterlegt werden. Das Leitbild ist damit ein lebendiges Dokument, in dem der aktuelle Zustand und die zukünftige Ausrichtung der Organisation abgebildet wird.

3. How to, oder: Prozesse des Innovationsmanagements definieren

Wie oben definiert ist Ziel eines Innovationsmanagementsystems, die Entwicklung und Förderung von Ideen ermöglichen und einen Prozess zu gestalten, der zur Umsetzung der Ideen führt. Denn erst die Umsetzung macht Ideen zu Innovationen. Die Umsetzung muss jedoch so effizient und effektiv wie möglich erfolgen.

Die erfolgsversprechendsten Projekte sollen möglichst ressourcenschonend verfolgt werden. Entsprechend relevant ist es, für die einzelnen Schritte des Innovationsmanagements Prozesse zu gestalten. Diese müssen aufeinander abgestimmt und in ein integriertes Innovationsprozesssystem zusammengefasst werden. Hier sind auch Verantwortlichkeiten (Personen und Gremien) sowie Entscheidungsroutinen festzulegen.

Sinnvoll in diesem Schritt ist das Herangehen mit der schrittweisen Ermöglichung von sich zunehmend entwickelnden Ideen.

So kann der Innovationsprozess zunächst grob untergliedert werden in die beiden Phasen der

a) Ideenfindung: Nicht nur durch Duschen, sondern vor allem mithilfe unterschiedlicher Kreativitätstechniken, aber auch basierend auf Rückmeldungen aus der Umwelt, von Nutzer* innen, Angehörigen, Kostenträgern und weiteren internen wie externen Stakeholdern, werden Ideen für neue sozialen Dienstleistungen, wirtschaftlichen, organisationsstrukturellen und -prozessualen sowie sozialen Problemlösungen generiert. Ein in der Phase sehr hilfreiches Tool ist für mich der Double Diamond Prozess, der den Kreativprozess visualisiert und damit ermöglicht, die Bedürfnisse der Nutzer*innen gezielt zu verstehen und für die Innovationsentwicklung zu nutzen. Der Double Diamond Prozess verläuft schrittweise vom Verstehen des Problems über die konkrete Definition des spezifischen Problems und das Entwickeln erster Lösungsansätze bis hin zu ersten, spezifischen Lösungen/Prototypen (vgl. b). Aber auch Design Thinking hilft in dieser frühen Phase zur Findung von Ideen. Insbesondere in dieser sowie in der Phase der Ideenumsetzung können Innovation Labs wertvolle Dienste leisten und Unterstützung liefern.

b) Ideenumsetzung: Im Vordergrund steht die Frage: „Wie kommen wir von der Idee zur neuen Lösung!?“ Neben klassischem Projektmanagement zur Begleitung der Innovationsprozesse sind die Methoden des agilen Projektmanagements hilfreich und handlungsleitend. Insbesondere ein Vorgehensmodell orientiert an der Logik von Scrum ist erfolgsvorsprechend, da nicht „im stillen Kämmerlein“ an der Umsetzung gearbeitet wird, sondern immer wieder der Kontakt zu den Nutzer*innen gesucht wird.

Für beide Phasen sind dann Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf strategischer, administrativer und operativer Ebene festzulegen.

Strategische Aufgaben betreffen strategische Entscheidungen (Erarbeitung und Entwicklung der Innovationsstrategie, Festlegung des Innovationsbudgets, Zuteilung von Ressourcen…). Auf den ersten Blick ist hier die Geschäftsführung gefragt. Bewährt hat sich jedoch, im Sinne des Open Innovation Ansatzes (vgl. bspw. Hanisch, Grau, 2020) ein Innovationsgremium einzurichten, in dem auch innovationsorienterte Mitarbeiter*innen, Mitarbeiter*innen (aus dem Innovation Lab) und ggf. weitere (externe) Stakeholder auf strategischer Ebene eingebunden werden. Dadurch erweitert sich der Blick auch auf die strategischen Fragen des Innovationsmanagements.

Auf administrativer Ebene ist festzulegen, wie der reibungslose Ablauf des Innovationsprozesses sichergestellt werden kann. Auf dieser Ebene kommen Innovations(prozess)manager*innen ins Spiel, die bspw. Die erste Prüfung eingereichter Ideen vornehmen und das Projektmanagement, Meetingmoderation etc. vornehmen können.

Operative Aufgaben umfassen die konkrete Durchführung der Innovationsprojekte. Die jeweiligen Projektverantwrtlichen sind hier die relevanten Personen.

Zur strategischen Steuerung der jeweiligen Innovationsprojekte hat sich bewährt, dass das Innovationsgremium iterativ (in regelmäßigen Abständen, bspw. quartalsweise) zusammenkommt und entscheidet, ob die angestoßenen Innovationsprojekte in die nächste Phase des Entwicklungsprozesses übergehen, weiterbearbeitet oder abgebrochen werden sollen.

Herausfordernd im sozialwirtschaftlichen Kontext ist die Festlegung von Kennzahlen als Entscheidungsgrundlage für das Innovationsgremium. Hilfreich ist in dem Kontext aber bspw. die Messung des Inputs (Wie hoch ist der bisherige Aufwand an Personal und Kosten?).

Diese Phase abschließend ist darauf zu verweisen, dass es nicht um Innovation um der Innovation willen geht. Im Zentrum muss immer der Impact, die Wirkung für die Nutzer*innen stehen.

Entsprechend ist das Innovationsmanagementsystem insgesamt in regelmäßigen Retrospektiven hinsichtlich des Funktionierens des Prozesses selbst (bspw. Anzahl der Ideen) und des Ergebnisses (Output) (bspw. Umsatz, neue Geschäftsfelder, neue interne Prozesse…) zu reflektieren: Erzielen wir mit dem, was wir beabsichtigen, echte soziale Wertschöpfung? Ist unser Innovationsprozess wirkungsvoll? Hier bietet sich an, den Rhythmus der regelmäßigen Überprüfung und Entwicklung der Innovationsstrategie zur Reflexion des Innovationsmanagementsystems insgesamt zu nutzen.

4. Innovationsmanagement in der Gesamtorganisation verankern

Die Umsetzung der ersten drei Schritte ist zwar nett, aber ein funktionierendes Innovationsmanagementsystem entsteht erst, wenn die erarbeiteten Prozesse tatsächlich gelebt werden. Dazu ist es wesentlich, das Thema Innovation und das erarbeitete Innovationsmanagementsystem möglichst flächendeckend und regelmäßig zum Thema in der Organisation zu machen.

Nicht nur bei konkreten Innovationsprojekten, sondern bspw. auch bei der Einstellung neuer Mitarbeiter*innen oder bei Teamsitzungen sollte der Wille zur Innovation und die vorhandenen Prozesse thematisiert werden.

Gerade zu Beginn der Einführung ist es wichtig, erkannte Herausforderungen im Innovationsmanagementsystem schnell in das System einzubinden. Dadurch wird zu Beginn ermöglicht, das erarbeitete System an die real herrschenden, in sozialen Organisationen oft enorm komplexen, Bedingungen anzupassen.

Zur Schaffung einer Innovationskultur ist es entsprechend relevant, die Ausrichtung auf Innovation und das Verständnis des dahinterliegende Systems transparent und verständlich für alle Mitarbeiter*innen zu gestalten.

Hilfreich ist es, ein möglichst partizipatives Kick-off Event zum Start der Nutzung des Innovationsmanagementsystems durchzuführen. Bewährt haben sich in größeren Organisationen außerdem Leitfäden, die das System mit den wesentlichen Eckpunkten erklären und damit für alle Beteiligten Innovation greifbar und umsetzbar machen.

Auch das regelmäßige Aufgreifen von Innovation und die Darstellung innovativer Projekte in den internen wie externen Veröffentlichungen (bspw. Zeitungsberichten, Jahresberichten, Mitarbeiterzeitschriften, Blogs, Intranet…) ist wichtig, um Innovation und Lernen als Haltung und Kultur tiergehend zu etablieren. Last but not least sind regelmäßige Schulungen zu neuen (Projekt-)Management-Methoden und innovationsfördernde Veranstaltungsformate wie Barcamps oder Lean Coffee hochgradig sinnvoll, um Ideen zu generieren und Innovation und die entsprechende Kultur in der eigenen Organisation immer weiter zu entwickeln.

Fazit, oder: Die eigenen Anforderungen im Blick halten

Bis hier hin durchgehalten? Respekt… Ich will abschließend auch nur noch mal betonen, dass die beschriebenen Schritte zu einem lebendigen Innovationsmanagement auf die eigene Organisation anzupassen sind.

So braucht ein Komplexträger mit mehreren Tausend Mitarbeiter*innen eine andere Verankerung als ein kleiner freigemeinnütziger Träger sozialer Dienstleistungen. Unabhängig davon aber können die einzelnen Schritte hilfreich sein, um die wesentlichen Aspekte eines lebendigen Innovationsmanagementsystems zu bedenken.


Ach ja, inzwischen gibt es einen eigenen kleinen Online-Kurs zu dem Beitrag. Hier findest Du mehr Infos.


Hat Ihre Organisation eine Idee davon, wie mit neuen Ideen umgegangen werden soll? Und ist diese Idee in einen strukturiertes Vorgehen und damit in ein Innovationsmanagement geflossen? Würde mich sehr interessieren…

Raus aus der Komfortzone: Die 5 wichtigsten Fragen gelingender Organisationsentwicklung

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Es gibt eine Frage, die im Kontext gelingender Organisationsentwicklung brennend interessiert: Was kann ich (als Mitarbeiter*in, Chef*in, Führungskraft…) konkret tun, damit es besser, anders, neu… wird? Die Frage ist berechtigt, denn so einfach ist es wirklich nicht: Organisationen als Soziale Systeme verändern sich nicht, nur weil jemand sagt, dass es anders werden muss. Widerstände und Vorbehalte gegen die Veränderung sind nur die eine Seite, hinzu kommen berechtigte Ängste, unklare Zukunftsbilder und vieles mehr, was Veränderung behindert. Hinzu kommt, dass Du als Mitarbeiter*in und selbst als Geschäftsführung einer formal-hierarchisch strukturierten Organisation nicht alle Macht hast, um die (aus Deiner Sicht!) notwendigen Veränderungen anzustoßen. Aber hier will ich Dir eine sehr einfach Möglichkeit an die Hand geben, Wandel anzustoßen: Stell Fragen! Denn, und das lernen wir schon als Kind: Fragen kostet nichts. Jede Frage ist aber ein (Mini) Impuls in ein soziales System. Und auch wenn sie nichts kosten – diese kleinen Impulse bewegen einiges. Die aus meiner Sicht fünf wichtigsten Fragen gelingender Organisationsentwicklung klingen auf den ersten Blick trivial, können im Alltag aber einiges bewegen!

Machtfragen?

Vorher aber noch kurz die Klärung, warum es mit der Macht in Organisationen nicht ganz trivial ist: Selbst als Abteilungsleitung und auch als Geschäftsführung ist das Anstoßen tiefgreifender Transformation nicht einfach, denn:

Ohne die Beteiligung der obersten Ebene einer Organisation ist echte Veränderung und die tiefgreifende Unternehmenstransformation bestehender, traditioneller, formal hierarchisch strukturierter Organisationen kaum umzusetzen. Und selbst das dauert (auch wenn einige behaupten, sowas auch in 90 Tagen umsetzen zu können)… Auch wenn es hart klingt:

Ohne formale Macht, Entscheidungen durchsetzen zu können, wird es schwer. Das frustriert auf den ersten Blick. Aber nur auf den ersten. Denn wenn man genau hinschaut, hat jede*r (in seinem mehr oder weniger großen Umfeld) Einfluss. Denn:

Du bist das System.

Macht Fragen!

Aber in jeder Situation hast Du die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Niemand kann Dich davon abhalten, Deine Fragen zu platzieren. Natürlich kosten Fragen Überwindung. Immer. Im Seminar, in einer größeren Gruppe und natürlich auch vor der*dem Vorgesetzten.

1. Wozu?

Das ist die Kernfrage: Wozu machen wir das hier eigentlich? Was ist der Zweck dessen, was wir hier tun? Diese Ebene ist für die Gesamtorganisation, die Abteilung, das Team und für jeden einzelnen Menschen wichtig. „Wozu“ fokussiert auf die Zukunft und spannt den Horizont auf zur Vision, zu dem, wohin es gehen soll.

Ja, es kann nerven, immer wieder diese Frage zu stellen, aber anstatt die Anstrengungen zu verdoppeln und in die falsche Richtung zu galoppieren, macht es Sinn, Richtung und Ziel wieder und wieder gemeinsam auszutarieren und für alle transparent zu machen.

2. Wer?

Da niemand weiß, wie die Zukunft in einer zunehmend dynamischen, komplexen Welt wirklich aussehen wird, macht es wenig Sinn, auf den oder die Expert*in zu warten. Niemand hat die eindeutige Antwort und klare Vorgehensweise.

Es geht vielmehr darum, Menschen zu finden, die mutig neue Wege beschreiten, ausprobieren, Hypothesen aufstellen, testen, beobachten und reagieren. Daraus resultiert Lernen, wiederum auf Ebene der Gesamtorganisation, der Abteilung, des Teams und jeder einzelnen Menschen. Mehr noch: Wir als Gesellschaft lernen (hoffentlich) aus diesem iterativen Vorgehen. Und damit bleibt die Frage:

Wer? Wer kommt mit? Wer ist dabei? Wer geht voraus? Wer hat Lust, Zukunft zu gestalten? 

3. Wie?

In meinem letzten Beitrag habe ich zur Notwendigkeit der Definition von Werten und Prinzipien auf Teamebene beschrieben. Im Kern geht es dabei um die Frage:

Wie wollen wir zusammenarbeiten? Welche Werte leiten uns in unserer Arbeit? Welche Prinzipien ermöglichen Entscheidungen, obwohl niemand weiß, was richtig ist? Und es geht noch konkreter: Die Frage nach dem „Wie“ nimmt auch die Struktur und das Geschäftsmodell insgesamt in den Blick:

Ist es sinnvoll, nach dieser und jener Struktur und Vorgehensweise zu arbeiten, wie wir arbeiten? Die Antworten auf das Wie sollten immer das Wozu, also die Antworten auf Frage 1, in den Mittelpunkt stellen.

4. Was?

„Was machen wir hier eigentlich?“ hängt eng zusammen mit Frage 1 – Wozu machen wir das, was wir machen? Auch in Zukunft gerichtet ist der Impuls hilfreich: „Was sollen wir machen?“ Und dann öffnet die Frage auch noch die Option, Dinge, Vorgehen etc. ganz anders zu machen:

„Was wäre, wenn wir es ganz anders, so oder so machen?“

Denn oft gehen wir davon aus, dass unser Vorgehen „alternativlos“ ist. Aber mal ehrlich: Es gibt immer Wahlmöglichkeiten, die zu neuen Optionen führen. Und ja, auch „Nichtstun“ ist eine Option. 

5. War was?

Im Rückblick bleibt noch die Frage, ob das, was wir getan haben, tatsächlich sinnvoll war und zu dem beigetragen hat, was wir angestrebt haben. Es ist damit die Reflexionsfrage, der Blick zurück und nach vorne.

Leider erlebe ich es häufig, dass diese Frage nicht gestellt wird, obwohl erst aus der Überprüfung der vorab angenommenen Hypothesen Lernen und Entwicklung entsteht.

Mit mehr Fragen in die Lernzone!

Noch einmal: Soziale Systeme lassen sich nicht gezielt – im Sinne traditionellen Change Management Vorgehen – verändern. Sie brauchen Impulse, auf die dann reagiert werden kann. Und Fragen sind Impulse. Fragen bewegen. Fragen regen neues Lernen an. Über Fragen ergeben sich neue Antworten, neue Sichtweisen und neue Perspektiven.

Diese neuen Perspektiven braucht es in Zeiten wie diesen mehr als dringend. Wir müssen raus aus unseren Komfortzonen, auch wenn das angesichts einer Pandemie komisch klingt. Aber auch Jammern und Bewegungslosigkeit können komfortabel werden.

Lasst uns gemeinsam fragend auf die Suche nach der Lernzone unserer Organisation gehen.


P.S.: Interessant im Kontext der Organisations- und Teamentwicklung sind auch systemische Fragen, die explizit auf die Eröffnung neuer Perspektiven angelegt sind.

P.P.S.: Für mich selbst habe ich gerade das Gefühl., direkt aus der Komfort- in die Panikzone gerutscht zu sein, aber dazu später mehr… 😉

New Work und Verwaltung: Warum die kommunalen Verwaltung eine Schlüsselrolle einnimmt, wenn es um New Work geht

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Vor Kurzem habe ich mir den Spaß erlaubt, New Work und Verwaltung zusammen zu denken. Mehr noch: Ich habe behauptet, dass die kommunale Verwaltung einer der wesentlichen Player sei, wenn es um New Work ginge… Haha, lustige Reaktionen auf Twitter, verwunderte Gesichter im Rahmen des Kommunalcamps, bei dem ich die gleiche Behauptung in einer Session aufgestellt habe:

https://twitter.com/HendrikEpe/status/1447942453475033095

Aber ehrlich: Es war gar kein  Spaß!

Ich meine das ernst. Wirklich!

Wirklich, wirklich!

Aber ich glaube, ich muss verschriftlichen, was ich mit meiner These meine. Denn es gab zwar Reaktionen auf den Tweet, aber niemand hat gefragt, was ich unter dem inzwischen wirklich strapazierten Flutschbegriff „New Work“ verstehe.

Also braucht es eine Definition von New Work. Daran anschließend sind die Herausforderungen der kommunalen Verwaltung kurz in den Blick zu nehmen, um zu einem neuen Verständnis der Rolle der kommunalen Verwaltung in der Entwicklung hin zu New Work zu kommen.

Was ist New Work?

Wer mir länger folgt, weiß, dass ich gerne zwischen a) New Work im Verständnis zeitgemäßer Organisationsentwicklung und b) New Work im Sinne Frithjof Bergmanns unterscheide.

Zu a) Unter New Work im Verständnis zeitgemäßer Organisationsentwicklung fällt aus meiner Sicht alles, was dazu dient, Organisationen anpassungsfähiger für kontinuierlichen Wandel zu machen. Die agilen Methoden, selbstorganisierten Strukturen und sinngetriebenen Ausrichtungen von Organisationen zählen dazu. Interessant ist, dass zeitgemäße Organisationsentwicklung bestehender Organisationen im Kern auf systemische Organisationsentwicklungstheorien aufbaut. Auch wenn es schwer fällt: Richtig neu ist das nicht. Unabhängig davon bleiben die Entwicklungen hin zu zeitgemäßen Organisationen aber aktueller denn je.

Zu b): Bergmann hingegen ging es in erster Linie nicht darum, hippe Organisationen zu designen, sondern die Gesellschaft zu verändern und ein anderes Lohnarbeitssystem zu schaffen, um damit den Herausforderungen unserer Zeit besser begegnen zu können.

Und die Herausforderungen sind vielfältig:

Klimakrise; digitale Transformation; massiver Fachkräftemangel in lebensrelevanten Branchen wie Gesundheit, Pflege und Erziehung; ein Bildungssystem, das auf allen Ebenen keine Chance hat, Zukunft zu gestalten, obwohl es für die Ausbildung der Kinder, Jugendlichen, jungen und älteren Erwachsenen zuständig sein sollte; eine globale Krise der (industriellen) Landwirtschaft, Urbanisierungstendenzen, die auch von einer Pandemie nicht gebrochen werden konnten und so weiter und so fort…

Bergmanns Idee zur Bewältigung der Herausforderungen lautet (sehr kurz) zusammengefasst:

Selber machen!

New Work heißt selber machen

Über High-Tech-Selbstversorgung muss es zukünftig darum gehen, materielle Dinge selbst zu reparieren und/oder via 3D-Druck in lokalen communities, in maker- und coworking-spaces neu zu gestalten. Dadurch spart man Material, Kosten und CO2.

Aber auch bei immateriellen Dingen wie der Gestaltung von Pflege und Betreuung können wir angesichts hundertausender fehlender Fachkräfte nicht mehr auf „Institutionen“ oder „den Staat“ warten.

Auch hier geht es darum, Netzwerke zu kreieren – caring communities, die lokal und kleinräumig und vor allem autonom und selbstbestimmt agieren.

Im Bildungssektor sind wir hier schon weiter, oder wer wartet noch darauf, dass klassische Institution der formalen Bildung vor Ort das gerade genau passende Angebot zur richtigen Zeit bereit stellen? Besser ist: Im Netz schauen, learning communities gestalten, einen WOL circle ins Leben rufen und los lernen – New Learning leben und – eben – selber machen.

Bei New Work geht es nicht darum, was ich „wirklich, wirklich tun will“

Um die Netzwerke und communities gestalten zu können, ist es jedoch notwendig – so Bergmann – sich mit sich selbst befasst zu haben. In meinen Augen liegt hier einer der Denkfehler der „New Work Community“:
Es geht nicht darum, was ich „wirklich, wirklich tun will“. So hat das, „was ich wirklich, wirklich tun will“, aus Perspektive Bergmanns wenig mit „Selbstfindung“ im klassischen Sinne zu tun:

Mir geht es um grundlegende Dinge, darum, dass Menschen sich nicht in Lohnarbeit, zu der sie keinen inneren Bezug haben, erschöpfen und am Lebensende feststellen, dass sie gar nicht richtig gelebt haben.

Interview mit Bergmann, 2017

Es ging Bergmann nicht darum, dass jeder egozentriert nackig im Wald sitzt und sein „Why“, seinen persönlichen „purpose“ oder whatever findet, auch wenn dieser in hippen Großstadtcafés gerne gesucht wird.

Vielmehr geht es bei dem, was man „wirklich, wirklich tun will“ darum, über die Auseinandersetzung mit sich selbst in die Lage versetzt zu werden, im Sinne der oben genannten Beispiele gestalterisch tätig zu sein. Arbeit wird damit zu etwas, was Menschen im Innersten stärkt, anstatt schwächt.

Erst dann, wenn ich die gesellschaftlichen Bedarfe sehe und meinen Anteil an der Gestaltung dieser Bedarfe erkenne, kann ich sinnvoll zu Gestaltung der Gesellschaft beitragen, indem ich das tue „was ich wirklich, wirklich tun will“.

Ich kann mich in privaten caring communities engagieren, maker spaces gründen, Politik für eine Gesellschaft der Zukunft machen, Kinder betreuen, mich selbständig machen, start-ups gründen, mir einen neuen Job suchen, Blogbeiträge schreiben, (m)einem „calling“ folgen…

Mit anderen Worten: Die Suche nach dem, was man wirklich wirklich tun will, allein reicht und hilft nicht. Es geht darum, Gesellschaft zu gestalten.

Dazu noch einmal Bergmann selbst:

Es gibt Alternativen zu diesem Lohnarbeitssystem, dem wir uns die letzten 200 Jahre unterworfen haben und das von uns verlangt, dass wir als Gegenleistung für die Existenzsicherung einen monotonen Job verrichten. Statt Grossunternehmen, in denen die Bürokratie und die Angst regieren, brauchen wir vermehrt kleine kooperative Organisationen, in denen Menschen wirklich etwas voranbringen wollen. 

Interview mit Bergmann, 2017

Soziale Innovationen ermöglichen, oder: New Work und Verwaltung

Und genau hier ergibt sich die Kreuzung der kommunalen Verwaltung mit dem Grundkonzept von „New Work“, wie ich es oben geschildert habe.

Im von mir hier postulierten Sinne geht es bei New Work nicht um die Arbeit in der kommunalen Verwaltung als Organisation. Es geht um die Arbeit an der Kommune. Oder noch größer: Bei New Work geht es darum, Gesellschaft zu gestalten. Und dazu braucht es Bedingungen, die dies ermöglichen.

Es braucht Initiativen, Unterstützung, Kompetenz und Raum, damit Menschen zusammen kommen können. Das Zusammenkommen dient dazu, gemeinsam, spontan und ungeplant neue Ideen und vor allem die Umsetzung neuer Ideen zu gestalten.

Das ist dann die oft beschworene, viel gesuchte und selten konkret gewordene soziale Innovation.

Raum ist wesentlich

Insbesondere der Raum ist wesentlich (und gut gestaltbar): Gerade nach der Pandemie (aber auch schon vorher) haben es Kommunen mit zunehmend leer stehenden und unattraktiven Innenstädten zu tun. Leider hat der Einzelhandel in vielen Fällen den Entwicklungen nicht standhalten können (und nein, es waren nicht die Entwicklungen der letzten zwei, sondern locker die Entwicklungen der letzten 15 Jahre, in denen die digitale Transformation im Einzelhandel verpennt wurde).

Hier kann die Kommune mit der Anmietung und Neugestaltung von Raum, der für die Gemeinde zur Verfügung gestellt wird, punkten. Coworking-Spaces brauchen in kleinen Gemeinden kommunalen Support, um überleben zu können, bringen aber enorm viel für die Gemeinde, wie Tobias Kremkau hier eindrücklich ausführt.

Und die handwerklich mehr als begabten Profis des Bauhofs können den Makerspace in einer leerstehenden Fabrikhalle nicht nur ausstatten, sondern auch inhaltlich betreuen. In diesen Maker-Spaces können dann Rentner*innen ihre Erfahrungen in alten Handwerken und Kulturtechniken an junge Menschen weitergeben (bspw. Mofa reparieren) und junge Menschen können die Skills hinsichtlich digitaler Angebote an Unerfahrene weitergeben (etwas plakativ, I know).

Neben agilen Bauhöfen (sowas gibt es wirklich) zur Betreibung der Maker-Spaces habe ich die Volkshochschulen im Kopf, die in den meisten Fällen zumindest ein kommunale Anbindung haben. Diese, oftmals sehr breit aufgestellten Organisationen haben über ihre Programme Verbindungen in alle Bevölkerungsteile und Generationen. Deutlich wird jedoch, dass VHS-Programme im klassischen Sinne zukünftig kaum noch tragfähig sind. Hier wäre ein Engagement in der Gestaltung der Kommune, bspw. als Betreiber der Coworking-Spaces mehr als sinnvoll denkbar. Darüber hinaus gewinnt „Neues Lernen“ in allen Richtungen an Bedeutung. Hier – im Rahmen von New Learning – könnten wiederum die VHS eine tragende Rolle spielen. Und Leuchttürme wie Oodi in Helsinki zeigen den Weg.

Aus der Gemeinde denken

Wichtig bei all diesen Überlegungen ist aber, dass Verwaltung nicht neue Programme aufsetzt, die die Gemeinde aus der Perspektive der Verwaltung neu gestalten.

Vielmehr ist ein Perspektivenwechsel notwendig – von den Bedarfen der Verwaltung hin zu den Bedarfen der Menschen. Es geht um Kundenorientierung in der Verwaltung, wenn man dieses Wort nutzen will.

Somit stehen vor der Anschaffung des 3D-Druckers für den Makerspace breite Beteiligungsprozesse, die in Workshop-Formaten die Bedarfe und Herausforderungen der Menschen in der Gemeinde in den Blick nehmen:

  • Was braucht die Gemeinde?
  • Was brauchen die Menschen in der Gemeinde?
  • Was gibt es schon?
  • Was kann unterstützt werden?

Entsprechende Formate und Prozesse sind nicht neu. Von World-Cafés über Design Thinking Prozesse auf kommunaler Ebene bis hin zur Veranstaltung von Barcamps, die explizit die kommunalen Belange in den Blick nehmen gibt es Formate, die genau die Anliegen der Beteiligung und Gemeindeentwicklung im Blick haben.

Neu ist jedoch, dass die kommunale Verwaltung diese Formate und Prozesse aktiv gestaltet und im Sinne einer lebenswerten Gemeinde vorantreibt und darüber aktiv gestaltend tätig wird.

Und selbst das ist nicht ganz neu: Die hier skizzierten Ideen sind an vielen Orten bereits Realität. So lohnt es beispielsweise, einmal bei Frederik Fischer zu den Themen rund um KoDorf und Coworking auf dem Land vorbeizuschauen, dessen Projekte ohne kommunale Unterstützung nicht stattfinden könnten.

New Work in der Verwaltung, oder: Was wird gebraucht?

Klingt alles gut, oder? Aber wie kann es konkret gelingen, die kommunale Verwaltung „on the way to new work“ zu bringen?

Aus meiner Sicht bedingen sich die Entwicklung der Gemeinde und die Entwicklung der kommunalen Verwaltung als Organisation. Hier kommen wir zu der Definition von New Work im Sinne der Organisationsentwicklung.

Im Rahmen dieses Beitrags ist es nicht möglich, alle Optionen der Organisationsentwicklung hin zu einer neuen Arbeitswelt darzulegen. Die grobe Orientierung an der Dreiteilung von Menschen (Haltungen, Kompetenzen…), Teams (Wie wollen wir zusammen arbeiten?) und der Organisation (Welche Strategien und Strukturen sind sinnvoll, um einen möglichst großen Mehrwert für die Nutzer*innen zu generieren?) zeigt schon auf, dass das Thema Organisationsentwicklung in diesem Kontext enorm komplex ist.

Hinweisen will ich nur darauf, dass gerade in traditionellen Organisationen (zu denen Verwaltungen zweifelsohne zu rechnen sind) oft eine technokratische Vorstellung auch der Art vorherrscht, wie Veränderung angegangen werden sollte. Klassische (und ehrlich gesagt gruselige) Vorstellungen von Change Management im Sinne von unfreezing – changing – refreezing sind vorherrschend.

Im Zuge kontinuierlichen Wandels jedoch macht das keinen Sinn. Ein zeitlicher Ablauf, der darlegen soll, was wann wie genau nacheinander passieren muss, ist (und war schon immer) hinfällig. Rezepte für komplexe Fragestellungen funktionieren nicht. Nicht umgesetzte Rezepte führen vielmehr dazu, dass Entwicklung nicht passiert:

„Weil Schritt 1 von X nicht passiert ist, weil sich Abteilung XY nicht bewegt hat und überhaupt nicht digital genug ist, weil der Hans nicht das richtige Mindset hat, nicht richtig tickt und sowieso nicht alle Tassen im Schrank hat, konnten wir ja auch nicht so weitermachen, wie geplant und deswegen konnten wir dann auch noch keine Beteiligungsprozesse anstossen und überhaupt, Corona!“

Kurz: Verzichtet also auf Rezepte! Versucht vielmehr, auf vielen Ebenen viele kleine, strukturelle Schritte konkreter Veränderung anzustoßen. Iterative Organisationsentwicklung ist hier das Stichwort. Fragen dazu sind:

  • Was ist eine Herausforderung, eine Spannung? Was wollen wir konkret ändern?
  • Wie lautet eine Hypothese dazu? Wenn wir XY anders machen, erwarten wir, das Z passiert!
  • Was kann mein Team machen, um die Hypothese zu testen?
  • Und: Was kann ich heute und morgen anders machen, um die Hypothese zu testen?
  • reflektiert Euch: Führt regelmäßige Retrospektiven zur Hypothese durch!

Und schon allein die Änderung der Durchführung der Meetings im Team kann Wunder bewirken. Man kann mit einer stillen Minute zum Einstieg beginnen, Check-In Fragen nutzen, Meetings im Stehen abhalten, die Moderation wechseln lassen, kein Protokoll mehr anfertigen, sondern ein Fotoprotokoll nutzen oder – als einfachste Intervention – sich nicht immer auf den gleichen Platz setzen.

Wenn Du Dich dahin setzt, wo normalerweise die Teamleitung sitzt, wird das Auswirkungen haben. Kleine zwar, aber immerhin.

Alternativ dazu:

Wo sammelt ihr im Team die Dinge, die verändert werden sollten oder müssen? Nutzt ihr ein Team-Board oder ähnliches, um den Fortschritt von angestoßenen Projekten zu visualisieren? Dann braucht ihr auch kein Protokoll mehr…

Und so weiter, und so fort… Hinweise dazu, was alles anders gemacht werden kann, findest Du zum Beispiel im Buch „New Work Hacks“.

Gebraucht wird also Mut, kleine Schritte zu gehen und Dinge selbst anders zu machen. Nutze den Einfluss, den Du hast, um neue Wege zu gehen.

Nicht jetzt alles!

Es geht nicht darum, von jetzt auf gleich den kompletten Verwaltungsapparat zu drehen. Das wird nicht gelingen, die Mühe lohnt nicht. Genausowenig lassen stete, kleine Veränderungen selbst den steifsten Beamten kalt. Steter Tropfen höhlt den Stein. Lasst es tropfen. Macht Dinge anders, selbst.

Daraus, aus dem „selbst machen“ erwächst die Kultur der Organisation, nach und nach. Und mit dem Selbst machen sind wir wieder bei der Grundidee von Bergmann:

Wir müssen die Veränderungen, die wir wünschen, selbst in die Hand nehmen.

New Work und Verwaltung? Kein Scheiß!

Kein Scheiß?

Ja, sorry für den Ausdruck, aber vor einigen Jahren habe ich unter dem Titel „New Work zwischen Spiritualität, elitärem Scheiß und dringender Notwendigkeit“ einen Beitrag veröffentlicht.

Damals schon ging es um den Begriff „New Work“ und um das, was aus dem Begriff geworden ist, was darunter verstanden wird (und um die Frage, wie teuer ein Tag auf einer hippen Veranstaltung eigentlich sein kann…).

Für mich gab es eine Dreiteilung zwischen Spiritualität, dringender Notwendigkeit und elitärem Scheiß.

Unter der Spiritualität habe ich die Konzepte gefasst, die New Work vor allem am „Mindset“ festmachen aka „Wir müssen nur die Menschen ändern, dann läuft das schon mit diesem New Work!“

Unter elitärem Scheiß habe ich die Diskussionen um Organisationen gefasst, die New Work verstehen als „hippes, auf jeden Fall digitales Arbeiten“ in irgendwelchen Agenturen und den Besuch von völlig überteuerten Veranstaltungen, auf denen selbst Manager weiße Turnschuhe tragen (und geduzt werden müssen, bitte).

Unter „New Work als dringende Notwendigkeit“ jedoch verstehe ich die dringend notwendige Idee einer Neuen Arbeit dort, wo sie wirklich, wirklich gebraucht wird.

New Work, als Arbeit, die den Menschen stärkt, muss gerade die Menschen stärken, die einen wesentlichen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Und dazu gehören eben auch die Menschen in der kommunalen Verwaltung.

New Work und kommunale Verwaltung ist damit kein elitärer Scheiß, sondern dringende Notwendigkeit 😉

Und jetzt los!

6 Thesen zur Zukunft Sozialer Arbeit

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Einen Vortrag über die Zukunft einer Branche, zur Zukunft Sozialer Arbeit, zu halten, mitten in einer hoffentlich irregulären Zeitphase, mitten in einer Pandemie, ist ziemlich wagemutig. 

Wir haben in den letzten anderthalb Jahren zwar gelernt, was unter der VUCA-Welt zu verstehen ist. Wir haben gelernt, was Komplexität bedeutet. Wir haben gelernt, dass Digitalisierung auch in der Sozialwirtschaft auf unterschiedlichen Ebenen angekommen ist – oder zumindest nicht mehr als völlig absurd abgestempelt wird 😉

Wir haben gelernt, dass es anders kommen kann als geplant. All dies und noch viel mehr haben wir gelernt.

Aber wir lernen in der Regel aus den Erfahrungen der Vergangenheit, vielleicht aus der Gegenwart. Aber ein Lernen aus der Zukunft, die ja bekanntlich vor uns liegt, ist entsprechend schwierig.

Ich will aber trotzdem versuchen, ein paar Aspekte aufzugreifen, die die Zukunft der Sozialen Arbeit vielleicht ausmachen könnten.

In einigen Jahren können wir dann alle Wetten abschließen und uns noch einmal anschauen, was geblieben ist, was richtig, und was auch kompletter Blödsinn war.

Bevor ich euch meine Thesen – es sind dann doch mehr als drei Thesen geworden – für die Zukunft zeige, zwei Prämissen vorab:

Als erstes bitte ich euch, die internationale Definition der Sozialen Arbeit im Hinterkopf zu haben. 

Je länger ich mich mit dieser Definition sozialer Arbeit befasse, die ihr bspw. beim DBSH auf der Homepage findet, umso besser gefällt sie mir. In dieser Definition steht, dass

„Soziale Arbeit gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen fördert. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. (….) Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein.“

Definition Soziale Arbeit DBSH

Mir gefällt die Definition so gut, weil sie zum einen Soziale Arbeit als gesellschaftliche Veränderungen befördernd ansieht. Die Definition gibt der Sozialen Arbeit also eine sehr aktive Rolle in der Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungen.

Soziale Arbeit ist damit immer noch – und in meinen Augen in der Zukunft noch mehr – auch politische Arbeit.  Zum anderen geht es auf individueller Ebene um die Förderung von Selbstbestimmung und Autonomie.

Das gibt eine sehr klare Vision vor, worauf die Arbeit mit Menschen zielen soll – egal ob Kita, Kindergarten, Jugendhilfe oder Altenhilfe. Und eine leitende Vision ist in Zeiten des Umbruchs enorm relevant, um Orientierung zu bieten.

Und mehr noch: Selbstbestimmung und Autonomie lässt sich auch wunderbar auf den Sozialraum, die Gemeinde, das Quartier übertragen. Und Selbstbestimmung und Autonomie ist nicht irgendwann abgeschlossen, sie bleibt Daueraufgabe und ist damit zukunftsorientiert.

Für mich und vielleicht auch für Euch bietet diese Definition einen Fixpunkt, an dem sich gut orientieren lässt, wohin es in der Zukunft gehen kann, denn auch die gesellschaftlichen Veränderungen sind nie abgeschlossen.

Es geht damit um die Gestaltung eines Prozesses, wie unsere Zukunft aussehen kann/könnte.

Nach der Definition, die ihr bitte im Hinterkopf behaltet, seht ihr gleich, dass ich meine Thesen als Heuristiken gestaltet habe. Gerd Gigerenzer definiert Heuristik als Strategie, die mit nur wenigen Informationen arbeitet und den Rest ignoriert. Ihr kennt das vielleicht aus dem agilen Manifest, in dem der eine Wert mehr als der andere zählt, aber beide wichtig sind.

Damit versuche ich, die hinter den jeweiligen Aussagen liegende Komplexität des Systems, über das wir reden, halbwegs im Griff zu behalten.

So hat jede und jeder von Euch eigene Erfahrungen und eigene Vorstellungen von dem, was Soziale Arbeit ist und ausmacht. Allein die Tatsache, dass in unserer Branche mehrere Millionen Menschen arbeiten, zeigt, wie komplex das System ist.

Hinzu kommt, dass unsere Organisationen abhängig sind von anderen Funktionssystemen, die in ihrer Systemlogik diametral entgegengesetzt zu unserer Branche funktionieren.

So sind wir auf die Gestaltung von Dynamik und Komplexität angewiesen – oder was ist komplexer als eine Gruppe Kindergartenkinder?

Hingegen sind die Kostenträger – egal ob Kommunen, Kassen… – an Überprüfbarkeit, Regelkonformität und der Einhaltung von Vorgaben interessiert. Das macht es doppelt schwer, gestalterisch tätig zu werden.

Damit aber genug der Vorrede, auf in die Thesen:

These 1: Agieren und die Zukunft agil gestalten ist wertvoller als abwarten und reagieren

Zukunft Soziale Arbeit

Auf den ersten Blick klingt diese These trivial, oder? Aber ich bin ziemlich fest von dem überzeugt, was Alan Kay in dem Zitat hier aussagt:

„Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet.“

Aufgrund der Pandemie, aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen, aufgrund anstehender politischer Veränderungen und auch aufgrund der sich durch die Digitalisierung verändernde Konkurrenzsituation werden soziale Einrichtungen, Organisationen, Wohlfahrtsverbände und jede und jeder einzelne verstärkt gefordert, Zukunft aktiv zu gestalten.

Es wird nicht mehr ausreichen, in die nächste Leistungsvereinbarung zu gehen und zu hoffen, dass am Ende genauso viel herauskommt wie in der Vergangenheit.

Zur aktiven Gestaltung stellt sich die Frage, in welcher Ausrichtung aktiv gestaltet werden soll. Hier bin ich davon überzeugt, dass der Fokus noch stärker als bisher auf der Wertschöpfung der Organisation – also der Frage danach, wie die geleistete Arbeit in der Einrichtung zu höherem Wert – für die Klient*innen, die Quartiere, die Familien – liegen wird.

Das ist der wesentliche Fokus der Organisationen.

Dazu wiederum brauchen Soziale Einrichtungen Strategien. Diese Aussage allein ist schon wichtig, da ich immer wieder Organisationen sehe, die keine Strategie haben. Wichtig bei der Strategie ist aber nicht nur die Entwicklung, sondern vor allem die agile Umsetzung der Strategie. Agile Strategieumsetzung verstehe ich im Sinne einer möglichst hohen Anpassungsfähigkeit mit einem klaren Fokus auf die Nutzer*innen der Organisation.

Es wird in Zukunft wesentlich stärker darum gehen, die Wertschöpfung der eigenen Arbeit in den Mittelpunkt zu stellen.

Und – wie gesagt – die Wertschöpfung sind nicht Nebenkriegsschauplätze wie – als ein Beispiel – die Frage, ob Menschen im Büro, also wieder in Präsenz, oder remote arbeiten dürfen. Diese Frage interessiert die Klientin, die Nutzerin, den Kunden nicht. Und ja, mir ist bewusst, dass diese Kundenfrage bei uns etwas komplexer ist, mit Kostenträgern, Krankenkassen und Kommunen als Finanzierer sozialer Arbeit.

Aber gerade mit Blick auf diese sollte immer klar sein, warum wir was wie für unsere Nutzer*innen leisten.

These 2: Sich auf das eigene Können, die eigenen „Wurzeln“ besinnen ist wertvoller als methodischen „Moden“ nachzujagen!

Zukunft Soziale Arbeit

Wenn es – wie ich es in These 1 postuliert habe – zunehmend wichtiger wird, Zukunft aktiv und mit Strategien zu bestreiten, die auf die Kund*innen, die Nutzer*innen zugeschnitten sind,  braucht es eine Orientierung, woran die eigene Arbeit methodisch ausgerichtet werden kann.

Ich habe mich in den letzten Jahren stark damit befasst, angeblich als „neu“ titulierte Management-Methoden auf soziale Organisationen zu übertragen bzw. die Verbindungen zwischen den Methoden und der Realität in sozialen Organisationen herzustellen. Agile Management-Methoden sind natürlich ein wesentliches Stichwort.

Kanban, Scrum, Design Thinking oder Effectuation sind Methoden, die zu mehr Innovation, mehr Anpassungsfähigkeit und zu einer neuen Art von Arbeit führen sollen. Viele dieser Ansätze sind auch in der Sozialen Arbeit mehr als sinnvoll zu adaptieren. Eine Auseinandersetzung mit diesen lohnt sich wirklich.

Aber mein Plädoyer für These 2 ist, erst im eigenen Werkzeugkoffer zu schauen und die Methoden, Tools und Werkzeuge, die soziale Berufe qua ihrer Ausbildung und ihres Studiums im Koffer haben, wirklich zu verstehen und zu nutzen.

So liegt der Kern agilen Arbeitens bei all den genannten Methoden für mich in drei Punkten:

  • Enge Zusammenarbeit in (möglichst interdisziplinären) Teams, die für ihre Arbeit Verantwortung tragen (Kollaborieren)
  • In kurzen Iterationen Ergebnisse zu erzielen (Liefern)
  • Und in regelmäßigen Reflexionen der Iterationen, wozu die Anpassung, Entwicklung, Verbesserung gehört (Reflektieren)

All diese Aspekte sind jedoch Standard sozialer Arbeit – egal ob mit Menschen, Gruppen oder im Gemeinwesen.

Jedes Hilfeplangespräch in der Jugendhilfe ebenso wie jede Intervention in der Beratung basiert genau darauf, das Problem zu erfassen, Hypothesen zu bilden, diese zu testen, dann gemeinsam zu reflektieren und neue Hypothesen zu bilden. Niemand setzt in der Sozialen Arbeit vorab ein Ziel wie in der Wasserfall-Logik: „Der Jugendliche XY muss im Jahr 2027 Rechtsanwalt sein, bitteschön.“ Das ist Nonsens.

In der Sozialen Arbeit – und damit wären wir wieder bei der eingangs genannten Definition – geht es um die Begleitung hin zu Selbstbestimmung und Autonomie. Das ist alles andere als statisch, sondern eine klassische Vision.

Ich warne nur davor, Methoden Sozialer Arbeit – wie bspw. das Empowerment – zu verstehen als „jeder kann machen was er will“.

Ich will Intuition und Gefühl in der Sozialen Arbeit überhaupt nicht in Abrede stellen, im Gegenteil, aber die Herangehensweise „Intuitiv habe ich im Gefühl, dass es bestimmt richtig und gut sein könnte, was ich mache!“ führt zu Gewurschtel und Chaos.

Zum einen – und das ist der wesentliche Fokus – mit Blick auf unsere Nutzer*innen müssen wir professionelle Entscheidungen auf Daten basieren lassen. Diese Daten lassen sich gewinnen, indem man regelmäßig Fortschritte auswertet – die Retrospektiven im agilen Management.

Zum anderen werden wir die Daten aber auch in der Rechtfertigung unserer Leistungen gegenüber den Kostenträgern brauchen. Gegenüber Kommunen und Krankenkassen zu argumentieren, dass diese oder jene Intervention bestimmt irgendwie vielleicht wirkt, wird in Zukunft nicht dazu führen, eine ausreichende Finanzierung seiner Arbeit zu bekommen.

Hier sehe ich, das nur als kleiner Exkurs, ein wesentliches Disruptionspotential:

Wenn es anderen Playern, die neu in den Sozialmarkt eindringen, gelingt, besser und datenbasiert zu argumentieren, warum welche Leistung wie benötigt wird, lässt sich darüber enormes Geld sparen. Dass diese Anbieter von den Kostenträgern bevorzugt werden, ist dann nicht verwunderlich. 

These 3: Unbedingt systemisch denken ist wertvoller als Denken in vereinfachenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. 

Zukunft Soziale Arbeit

Unter These 2 habe ich versucht, zu argumentieren, dass agiles Denken und Handeln den Methoden Sozialer Arbeit inhärent ist. Der Sozialen Arbeit ebenfalls inhärent ist der Kern von These 3:

Der Fokus Sozialer Arbeit ist immer das soziale System. Entsprechend komplex ist die Ausbildung für soziale Arbeit: Soziologische Aspekte werden ergänzt um medizinische und psychologische Aspekte. Hinzu kommen eigene disziplinäre Anteile ebenso wie Erfahrungswissen aus der sozialen Arbeit heraus. In der Sozialen Arbeit geht es um Ganzheitlichkeit.

Nicht der Fokus auf die Psyche oder auf den Körper, das Medizinische, zählt, sondern der Fokus auf das System, in dem Menschen agieren.

Systemdenken ist somit Kern sozialer Arbeit.

Systemdenken ist immer dann sinnvoll, wenn komplexe, mehrstufige, vielfältige und dynamische Strukturen in den Blick genommen werden. Wir sollten gelernt haben, dass die Veränderung sozialer Systeme darin besteht, Impulse in die Systeme zu senden und zu hoffen, dass die hypothesengeleitete, gewünschte Veränderung eintritt.

Der Blick in unsere Umwelt, in Funktionssysteme, von denen Soziale Arbeit abhängig ist, zeigt jedoch, dass das Denken in Kausalitäten, in „wenn – dann“ Beziehungen und damit in Abhängigkeiten Überhand gewinnt. Ich nehme wieder die schon in der vorherigen These angesprochene Wirkungsmessung, um zu verdeutlichen, was ich meine:

Wir sehen uns in den nächsten Jahren einer deutlich angespannteren Finanzlage der Kostenträger gegenüber. Entsprechend zurückhaltend werden die Kostenträger sein, Gelder für soziale Leistungen auszugeben. Das Klatschen für die angeblich so relevanten Branchen ist da nur noch zynische Hintergrundmusik.

Vielmehr geht es um den Nachweis, dass die Investition entsprechende Wirkung entfaltet. Kurz: Wenn auf Seite A Geld reingesteckt wird, wird erwartet, dass bei B entsprechende Ergebnisse sichtbar werden. Wenn keine Wirkung nachweisbar ist, werden Gelder gekürzt. 

Gegen diese einseitigen Tendenzen gilt es zukünftig verstärkt gegenzuhalten.

Es gilt, deutlich zu machen, dass sich soziale Systeme – dazu gehören übrigens auch soziale Organisationen – nicht kausal, nicht technokratisch, nicht regelgeleitet verändern lassen. Damit spreche ich nicht gegen die Wirkungsmessung sozialer Arbeit, im Gegenteil:

Wir sind aufgefordert, zukünftig viel stärker unsere eigene Professionalität zu betonen und über diese Professionalität, zu der das Systemdenken zwingend gehört, die Wirkung sozialer Arbeit darzulegen.

Der Bezug zur Definition Sozialer Arbeit zeigt die Komplexität und die Notwendigkeit, in Systemen zu denken, indem nicht nur ein Funktionssystem angesprochen wird, sondern auf Ebene der Menschen, der Gruppen, der Organisation und der Gesellschaft Veränderung hin zu Autonomie und Selbstbestimmung gefordert und durch Soziale Arbeit gefördert wird. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage Sozialer Arbeit.

Einfaches Denken und Handeln in Ursache – Wirkungsbeziehungen greift da schon jetzt und zukünftig verstärkt zu kurz.

These 4: Den Sinn sozialer Arbeit an der Lebensrelevanz für die Klienten festmachen ist wertvoller als ihn an den vermeintlichen Bedarfen des gesellschaftlichen Systems auszurichten.

Zukunft Soziale Arbeit

Den Begriff der Lebensrelevanz habe ich in einem Podcast mit Hartmut Rosa gehört.

Hartmut Rosa erläutert, dass wir in der Pandemie die Lebensrelevanz vor die Systemrelevanz gesetzt haben. Konkret spricht er davon, dass wir uns als Gesellschaft dazu entschieden haben, den Wert des Lebens vor die Notwendigkeiten des Systems zu stellen. Gesundheitsschutz geht vor Wirtschaft.

Natürlich gibt es hier auch einige Stimmen, die in Teilen berechtigt die Wichtigkeit der Wirtschaft betonen, aber der wesentliche Teil der Bevölkerung hat verstanden, dass Leben, egal welches, unbezahlbar ist.

Für mich folgt daraus, dass es uns im Sozialen wieder gelingen muss, die Lebensrelevanz unserer Berufe, unserer Branche zu betonen. Wir leisten mehr als das Ruhighalten der Gesellschaft. Und daraus folgt, dass Soziale Arbeit politisch ist und bleibt – vielleicht mehr noch als in den letzten Jahren und Jahrzehnten. 

Gerade angesichts der Bundestageswahl finde ich es auf der einen Seite mehr als relevant, die Programme der zur Wahl stehenden Parteien dahingehend zu analysieren, ob und wie das Soziale berücksichtigt wird. Da gibt es einige Unterschiede. Und ich glaube, es ist kein Geheimnis, dass ein „Weiter so“ für mich ein No Go wäre:

Hier brauchen wir einen zeitgemäßen, zukunftsgerichteten Neuanfang.

Auf der anderen Seite plädiere ich dafür, egal wie die Wahlen ausgehen, die politische Verantwortung der Sozialen Arbeit wahrzunehmen. Es ist notwendig, für seine Interessen, vor allem aber für die Interessen der Menschen einzustehen, für die wir da sind.

Und gerade die marginalisierten Gruppen von Menschen brauchen unsere Unterstützung.

Das ist einerseits die Aufgabe von jeder und jedem im sozialen Sektor. Für mich ist es aber insbesondere eine Führungsaufgabe, da politische Arbeit im Sozialwesen Interessenvertretung und damit Lobbyarbeit ist, auf lokaler, kommunaler und überregionaler Ebene.

These 5: Digitale Chancen nutzen und „normal“ werden lassen ist wertvoller als die bequeme Rückkehr zum Gewohnten

Zukunft Soziale Arbeit

Bislang bin ich eher allgemein geblieben. Agieren mehr als Reagieren, die eigenen Wurzeln mehr als neue Moden, Systemdenken mehr als kausale Zusammenhänge und auch Lebensrelevanz mehr als Systemrelevanz betonen das große Ganze, auch wenn hieraus natürlich sehr konkrete Handlungen abzuleiten sind. Lasst uns aber jetzt ein wenig tiefer gehen und über Digitalisierung sprechen.

Wir haben in den letzten 18 Monaten von zu Hause gearbeitet, remote Prozesse sozialer Arbeit gestaltet und auch im Sozialwesen erspürt, was es mit dieser Digitalisierung so auf sich haben könnte.

Aber mal ehrlich:

In weiten Teilen haben wir auf eine Krise reagiert, auch wenn das – so mein Eindruck – in vielen sozialen Organisationen wirklich gut gelungen ist. Das, was oft passiert ist, war Krisenmanagement.

Programme, Angebote und Strategien zum Umgang mit einer Pandemie wurden aus dem Boden gestampft. Da war das mit den digitalen Tools und Möglichkeiten hilfreich. Aber das war und ist noch längst nicht das, was die digitalen Möglichkeiten bieten. Eher sogar im Gegenteil.

So höre ich immer wieder die Aussage, dass „Videokonferenzen nun wirklich nicht vermisst“ wurden oder die „Veranstaltung Gott sei Dank wieder in Präsenz“ stattfinden kann oder oder oder… Der Wunsch, wieder in die „Normalität“ zurückzukehren ist nicht nur ungebrochen, sondern hat sich natürlich in den letzten Monaten verstärkt.

Wer will nicht „Normalität“ nach 18 Monaten Pandemie?

Aber wir haben – so Sascha Lobo – „jetzt einen Slot, in dem Menschen eine große Einsicht entwickelt haben in die Notwendigkeit der Instrumente der digitalen Vernetzung.“

Und auch im Sozialwesen haben wir diesen Slot jetzt.

Aber auch Lobo warnt davor, dass die Einsicht in notwendige Veränderungen nachlässt, sobald der Druck nachlässt, verändern zu müssen.

Daraus folgt, dass es die Aufgabe von Euch, von den „digitalen Vorreiter*innen“ in sozialen Organisationen ist, jetzt – solange das Möglichkeitsfenster noch offen ist – Prozesse und Strukturen zu gestalten, die ein „wieder zurück zur Normalität“ verhindern und eine digital vernetzte, kreative, kollaborative, auf CoCreation setzende neue Normalität schaffen.

Dazu sind Widerstände zu überwinden, denn das alte System ist bekannt, das neue aber erst in wenigen Ansätzen erkennbar.

These 6: Lernerfahrungen in verunsichernden Prozessen machen ist wertvoller als die oft illusorische Ausrichtung an perfekten Projektergebnissen.

New Learning

Die geschilderten Herausforderungen neuer Wege in der Gestaltung von Arbeit, von Organisationen und digital vernetzter Arbeit erzeugen ein Gefühl der Unsicherheit. Das Gefühl der Unsicherheit jedoch, ist nie angenehm. Menschen streben immer nach Stabilität und dem Altbekannten. Sie tun das, um Energie zu sparen.

In Organisationen ist das genauso. Neue Wege, Veränderungen und Innovationen in Organisationen sind störend. Und damit ergibt sich ein Dilemma, denn jedem ist bewusst, dass sich Dinge ändern müssen, um voranzukommen. Hier setzt These 6 an:

Wenn es gelingt, nicht mehr die perfekten Ergebnisse, die Resultate am Ende eines Projekts in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die gemachten Lernerfahrungen, wird es einfacher, mit der Unsicherheit umzugehen.

Es wurde schon in den letzten Monaten und Jahren viel von der experimentellen oder auch agilen Haltung gesprochen. Experimente machen und früh Scheitern war das Credo. Da wird jede*r Geschäftsführung Angst und Bange, denn wer will schon scheitern?

Aber lernen wollen wir alle.  Und dieser Switch, dieser Wechsel wird zukünftig vermehrt Bedeutung haben:

Lernerfahrungen müssen in den Vordergrund rücken.

Es muss in der Arbeit vermehrt darum gehen, sich auf den Weg zu begeben, zu lernen und den Weg auf Basis der Lernerfahrungen weiterzugehen. Das ist gar nicht so schwierig, setzt aber die Disziplin voraus, sich an bestimmte Prozesse, vor allem Lern- und Reflexionsprozesse zu halten. Da können wir in sozialen Berufen noch deutlich besser werden.

Fazit zur Zukunft sozialer Arbeit: Radikal auf dem Weg in eine Kultur sozialer Digitalität

Kultur der Digitalität

Zur Wiederholung noch einmal meine Thesen für eine Zukunft der Sozialen Arbeit:

These 1: Agieren mehr als Reagieren 

These 2: Die eigenen Wurzeln mehr als neue Moden  (besser These 1???)

These 3: Systemdenken mehr als kausale Zusammenhänge 

These 4: Lebensrelevanz mehr als Systemrelevanz (besser These 2)

These 5: Digital anfangen mehr als aufhören! 

These 6: Lernerfahrung mehr als Ergebnisse 

Ich will meinen Vortrag mit einem Zitat von Erich Fromm beenden.

Erich Fromm sagt, dass

„Die Wahrheit (…) nicht nur bedeutsam und ganz sein [muss], sie muss auch radikal sein, nicht geschönt, gesüßt, mit Zuckerguß überzogen. Die Erfahrung zeigt, dass die Wahrheit, das heißt die Konfrontation mit der Wirklichkeit, dort eine besondere Wirkung hat, wo man sie vollständig, klar und ohne Kompromisse sieht.“

Erich Fromm

Wahrheit muss radikal sein.

Der Begriff „Radikal“, der im Zitat von Erich Fromm sehr prominent steht, kommt aus dem mittellateinischen radicalis und meint „an die Wurzel gehend, von Grund auf, gründlich“.

Und ich denke, dass es Zeit ist, gründlich die Wurzeln sozialer Arbeit in den Blick zu nehmen und zu schauen, wie diese Wurzeln in die Zukunft führen können. Denn in diesen Wurzeln ist angelegt, dass Soziale Arbeit mehr ist als ein Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung des bestehenden Systems. Soziale Arbeit ist lebensrelevant.

Um jedoch auch zukünftig lebensrelevant zu bleiben, gilt es, jetzt aktiv zu werden.

Wir – die Professionellen der sozialen Arbeit, die Menschen, die Verantwortung tragen, müssen agieren und die Zukunft der Sozialen Arbeit in die Hand nehmen. Das geht aber nicht mehr, indem langfristige Pläne geschmiedet und diese dann mithilfe von Meilensteinen umgesetzt werden.  Die komplexen Herausforderungen lassen sich nicht mit (mono-)kausalem Denken und Handeln lösen.

Vielmehr braucht es Kollaboration, Vernetzung, gemeinsames Miteinander, um kreativ neue Wege gehen zu können.

Das gilt auch und insbesondere mit Blick auf eine digitalisierte Welt, in der sich die Soziale Arbeit wiederfindet. Mehr noch:

Es gilt, jetzt wo der digitale Grundstein gelegt ist, weiterzumachen bzw. anzufangen digital zu denken und zu handeln. Es gilt jetzt und in Zukunft, die Kultur der Digitalität sozial zu gestalten, um auch zukünftig eine lebenswerte Gesellschaft für uns in der sozialen Arbeit und für alle Menschen zu gestalten.

Abschließend noch einmal der Hinweis auf die Definition Sozialer Arbeit. Der Satz, dass Soziale Arbeit gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen fördert, unterstreicht aus meiner Perspektive, dass die Gestaltung einer Kultur sozialer Digitalität radikal – also vom Grund auf und im Kern – Aufgabe sozialer Arbeit ist.

Jetzt und in Zukunft.


Jetzt bin ich gespannt: Was meint ihr? Was fehlt? Wo seht ihr die wesentlichen Veränderungen und Herausforderungen? Lasst doch einfach einen Kommentar da…

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Warum Einfachheit, Machbarkeit und Sinn so wichtig sind, oder: Gedanken zur organisationalen Salutogenese

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Gesundheit und Krankheit sind in Zeiten einer Pandemie aus guten Gründen besonders relevant. Ich habe noch nie soviel „Bleib gesund“s unter Mails gelesen und in Gesprächen gehört. Und die aktuelle „Neue Narrative“ titelt in der aktuellsten Ausgabe entsprechend:

„Wir sind doch alle krank!“

Da kommt die Salutogenese um die Ecke: Wuhuu… Neues Fremdwort! Salutogenese, schon mal gehört? Wahrscheinlich schon, denn gerade im Kontext von Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens sollte die Idee hinter dem Begriff geläufig sein.

Spannend ist – und darum geht’s im Beitrag – die Übertragung der Idee der Salutogenese und deren Dimensionen auf Organisationen als soziale Systeme. Die Leitfrage lautet also:

Wie sehen gesunde Organisationen aus? Und wie können wir diese gestalten?

Aber der Reihe nach:

Was ist Salutogenese?

Salutogenese bezeichnet – so Wikipedia – neben einer Fragestellung und Sichtweise für die Medizin vor allem ein Rahmenkonzept, „das sich auf Faktoren und dynamische Wechselwirkungen bezieht, die zur Entstehung und Erhaltung von Gesundheit führen.“

Im Gegensatz zur Pathogenese, die die Krankheit in den Mittelpunkt stellt, wird bei der Salutogenese versucht, die drei Einflussfaktoren Verständnis, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit als Kohärenzgefühle in den Mittelpunkt der Entstehung von Gesundheit zu stellen. Gesundheit ist damit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Risiko- und Schutzfaktoren stehen hierbei in einem Wechselwirkungsprozess.

Geprägt wurde der Begriff der Salutogenese durch den israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) in den 1980er Jahren. Ohne in die Tiefe zu gehen, war eine der Kernfragen seiner Forschung, wie es Menschen gelungen ist, unter den Bedingungen der KZ-Haft sowie in den Jahren danach ihre (körperliche und psychische) Gesundheit zu erhalten.

Gesundheit entsteht nach Antonovsky – wiederum sehr kurz gefasst – wenn Menschen ein Kohärenzgefühl haben.

Kohärenz umfasst nach Antonovsky die drei Dimensionen Verständnis, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit :

  • Verständnis meint die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen.
  • Machbarkeit ist die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können – das Gefühl der Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit (ähnlich dem Begriff der ‚Selbstwirksamkeitserwartung‘ nach Bandura).
  • Und Sinnhaftigkeit ist der Glaube an den Sinn des Lebens.

Heiner Keupp beschreibt die drei Komponenten des Kohärenzgefühl wie folgt:

„Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist.

  • Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen (Verstehensebene).
  • Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann (Bewältigungsebene).
  • Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Sinnebene).“

Die drei Ebenen bzw. die Dimensionen Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit und Sinn machen demnach Gesundheit aus.

Das ist sehr nachvollziehbar: Wenn ich das Gefühl habe, dass mein Leben für mich verstehbar, gestaltbar und sinnhaft ist, habe ich das Gefühl, lebendig, gesund zu sein, gestalten und mich entfalten zu können. Und dabei ist dieses Gefühl für jede*n von uns völlig individuell.

Wenn jedoch eine Dimension ins Wanken kommt, ich also den Überblick verliere, nicht mehr gestalten kann und/oder den Sinn meines Handelns oder mehr noch des Lebens verliere, gerät das komplette Konstrukt ins Wanken.

Schon hier kann man – mit Blick auf Führung und Personalarbeit, mit Blick auf HR, sehr tief einsteigen, damit die Menschen in den Organisationen gesund bleiben. So ist das Konzept der Salutogenese in der Mitarbeiterführung und Entwicklung sicherlich mehr als lohnenswert.

Mich interessiert aber, ob und wie es gelingen kann, die Dimensionen der Salutogenese auf Organisationen als Ganzes zu beziehen. Welchen Nutzen können also die Dimensionen der Salutogenese für Organisationen und Fragen der zeitgemäßen Organisationsentwicklung haben?

Und welche Handlungsoptionen lassen sich daraus ableiten?

Übertragung der Dimensionen der Kohärenz auf Organisationen

Noch einmal: Die Dimensionen Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit und Sinn machen Gesundheit aus. Wenn man Organisationen als soziale Systeme betrachtet (was für mich aus vielerlei Perspektive Sinn macht), kann man davon sprechen, dass Organisationen „lebendige“ Eigenschaften aufweisen. Denn „weder Menschen noch die Organisationen, in denen sie arbeiten, [sind] Maschinen.“ (Neue Narrative, #12, S. 16).

Aus diesem Verständnis heraus entwickeln Organisationen sich selbst, wollen von sich aus „lebendig bleiben“ (Autopoiese) und sind – ebenso wie das psychische System der Menschen – als nichttriviale Systeme nicht steuerbar im maschinellen Sinn.

Apropos Sinn…

Sinn

Sinn – als erste der Kohärenzdimensionen – wird dahingehend wichtig, wenn man den Zweck einer Organisation betrachtet: Organisationen benötigen zum Überleben einen Zweck, eine Existenzberechtigung. Organisationen ohne Zweck sterben. Oder sie werden künstlich, mit viel Marketing, am Leben erhalten.

Genau wie Menschen einen Sinn benötigen, um gut arbeiten zu können, benötigen Organisationen einen Sinn. Schon hier stellt sich die Frage, wie der Sinn, der Purpose, das Zusammenspiel zwischen Vision und Mission in Deiner Organisation ausgeprägt ist? Wann hat sich Deine Organisation das letzte Mal mit ihrem Sinn befasst? Wozu existiert Deine Organisation? Hör mal genau hin, vielleicht ist es etwas anderes, als das, was Du glaubst?

Selbstwirksamkeit

Das Selbstwirksamkeitserleben bzw. die Selbstwirksamkeitserwartung ist nicht nur wesentlich für die Gesunderhaltung von Menschen, sondern auch für ihre Entwicklung. Denn wer daran glaubt, etwas bewirken und auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln zu können, kann als Person gezielt Einfluss auf die Dinge und die Welt nehmen, statt äußere Umstände, andere Personen, Zufall, Glück und andere unkontrollierbare Faktoren als ursächlich für das eigene „Schicksal“ anzusehen (vgl. Wikipedia).

Wenn mir – was ja nunmal vorkommt – das Leben Aufgaben stellt, die ich lösen kann, geht es mir gut. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann. Und für Organisationen gilt das Gleiche: Welche Aufgaben sind zu bewältigen? Befassen wir uns mit dem, was wir können? Denn nur daraus erwächst (Selbst-)Wirksamkeit.

Verstehbarkeit

Verstehbarkeit bedeutet, die Umwelt als geordnet, konsistent und erklärbar einzuschätzen. Menschen, die Begründungen für das finden, was sich um sie herum ereignet, gehen davon aus, dass auch künftig überraschend eintretende Ereignisse eingeordnet und erklärt werden können. Der Blick auf und vor allem der Blick in Organisationen zeigt jedoch, dass wir Organisationen geschaffen haben, die hochgradig kompliziert gestaltet sind. Regeln, Rituale, Vorgaben, Prozesshandbücher, QM-Richtlinien und vieles mehr sind nicht nur nicht mehr nachzuvollziehen oder verstehbar. Diese Strukturen von Organisationen führen zur Blockade der Möglichkeit, sich schnell an veränderte Bedingungen anpassen zu können.

Und genau das – diese Anpassungsfähigkeit – ist die berühmte Agilität, von der alle immer sprechen. Nicht umsonst überschreibt Jos de Blok (bspw. in diesem Video, aber auch an vielen anderen Stellen) den bzw. zumindest einen Aspekt des Erfolgs von Buurtzorg mit den Worten „keep it small, keep it simple“. Halte es einfach.

Halte Deine Organisation einfach.

Die Umschreibung des „Needing Principles“ mit den Worten Do, what’s needed! unterstreicht diese Einfachheit, Verstehbarkeit eindrücklich.

Das ist im Kern auch der Grund, warum ich glaube, dass selbstbestimmt agierende Teams und Organisationen nicht nur – wie oftmals vorgebracht wird – ein Thema für „Akademiker*innen“ sind. Im Gegenteil wird erst durch das Wegfallen von Strukturen, Hierarchien, Machtspielchen und interner Politik Klarheit, Einfachheit und Verstehbarkeit geschaffen. So ließe sich andersherum argumentieren, dass die etablierten Strukturen unserer Organisationen viel mehr dem Machterhalt als der eigentlichen Wertschöpfung dienen.

Aus der Einfachheit heraus ergibt sich im Übrigen viel Raum und Freiheit für die so viel beschworene und in vielen Bereichen wirklich benötigte Innovation.

Schlussfolgerungen für die Organisationsentwicklung

Es wurde deutlich, dass die Übertragung des Konzepts der Salutogenese auf Organisationen durchaus sinnvoll sein kann.

Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit und Sinn sind nicht nur für Menschen, sondern auch für Organisationen in einer sich dynamisch verändernden, komplexen Welt erstrebenswerte Aspekte, um „gesund zu bleiben“.

Es geht darum, überschaubar und nachvollziehbar sinnvoll handeln zu können.

Aber was kannst Du in Deiner Organisation konkret tun, um einen Schritt weiter zu einer gesunden Organisation zu kommen?

Dazu hier ein paar Ideen für

Verstehbarkeit:

  • Habt ihr eure Prozesse dokumentiert? Falls nicht: Machen! Denn es hilft ungemein, wiederholende Prozesse einmal zu fassen und dann auch anhand des PDCA-Zyklus weiterzuentwickeln. Falls ja: Wann habt ihr euch im Team oder der Organisation das letzte Mal ernsthaft mit den Prozessen befasst, diese aktualisiert und entmüllt? Prozesse zu dokumentieren macht nur Sinn, wenn diese dann auch gelebt werden.
  • Gibt es sonstige Regeln und Vorgaben, die ihr festgelegt habt und denen ihr folgen müsst? Machen diese Regeln und Vorgaben Sinn? Wenn nicht, weg damit.
  • Wie ist die Aufbaustruktur der Organisation gestaltet? Wie viele Hierarchieebenen gibt es? Und machen die Sinn? Wenn nicht, lohnt es sich perspektivisch, diese abzubauen. Das klingt einfacher, als es ist, aber das Ziel einer verständlichen Organisationsstruktur wäre ja eine echte Vision, oder?
  • Wie steht es eigentlich um die Strategie in der Organisation? Klar gibt es eine (hoffentlich…), aber ist diese auch den Mitarbeiter* innen bekannt. Und mehr noch: Kennen die Mitarbeiter* innen und Teams ihre Aufgaben und Projekte, mit denen sie zur Erreichung der Strategie beitragen? Falls nicht, lohnt es sich, die Strategie noch einmal genauer anzuschauen und gemeinsam Ziele zur Erreichung der Strategie auf den unterschiedlichen Ebenen der Organisation abzuleiten.
  • Und überhaupt Transparenz: Wie transparent sind Entscheidungen? Wie transparent ist die Kommunikation in der Organisation? Wie transparent sind auch die finanziellen Kennzahlen der Organisation? Denn: Wir können von den Mitarbeiter* innen nicht verlangen, dass sie Verantwortung übernehmen, wenn die Rahmenbedingungen unklar sind.

Selbstwirksamkeit

  • Ist der Gesamtorganisation klar, was Mission und Vision, was Purpose der Organisation ist? Das ist gerade bei sozialen Organisationen gar nicht so einfach, denn man kann ja irgendwie alles. Was aber gehört nicht zum Aufgabenbereich der Organisation? Was kann und muss von anderen bearbeitet werden?
  • Ist allen Mitarbeiter*innen auf Teamebene klar, was Vision und Mission ihrer Arbeit ist? Falls nicht macht es Sinn, im Team über die Aufgaben und die Ausrichtung des Teams gemeinsam zu sprechen. Wozu ist das Team da?
  • Gibt es in der Bearbeitung von Aufgaben eine Überschneidung dessen, was die Mitarbeiter *innen können, wollen und sollen? Das ist relevant, denn nur, wenn die Motivation mit den Fähigkeiten und Kompetenzen zusammenfällt und die dann hervorkommenden Ergebnisse noch das sind, was Aufgabe der Organisation ist, wird wirklich gute Arbeit geleistet. Was muss verändert werden, um eine Passung der drei Aspekte Wollen, Können und Sollen zu erreichen?
  • Welche Herausforderungen auf individueller Ebene sind zu bewältigen, um die Selbstwirksamkeit im Beruf zu erhöhen? Sind die Mitarbeiter*innen in der Lage, sich selbst zu organisieren, so, dass sie nicht von den anfallenden Aufgaben überfordert sind? Man kann nur dann selbstbestimmt im Team arbeiten, wenn man seine Aufgaben und sich selbst (halbwegs 😉 gut auf die Reihe bekommt.

Sinn

  • Mal ehrlich: Wenn man davon ausgeht, dass Deine Organisation ein soziales System ist: Was würde die Organisation selbst sagen: Macht das, was sie tut, Sinn?
  • Und ebenfalls ehrlich: Wenn es keinen Sinn macht, ist es auch OK, eine Organisation, ein Projekt oder ein Produkt sterben zu lassen. Manchmal macht der Neuanfang mehr Sinn.
  • Über Purpose, Vision und Mission habe ich ja schon geschrieben. Aber kennst Du die Vision, Mission und Purpose Deiner Organisation? Wirklich? Und macht das noch Sinn? Und wird das, was in der Vision, Mission und dem purpose steht, in konkrete Strategien übersetzt? Was also hat Deine Arbeit mit dem zu tun, was Sinn macht?

Naja, kann man ja mal drüber nachdenken…

Oder konkret dran arbeiten.

Wenn Du dabei Unterstützung brauchst, sag gerne Bescheid 😉