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Warum Einfachheit, Machbarkeit und Sinn so wichtig sind, oder: Gedanken zur organisationalen Salutogenese

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Gesundheit und Krankheit sind in Zeiten einer Pandemie aus guten Gründen besonders relevant. Ich habe noch nie soviel „Bleib gesund“s unter Mails gelesen und in Gesprächen gehört. Und die aktuelle „Neue Narrative“ titelt in der aktuellsten Ausgabe entsprechend:

„Wir sind doch alle krank!“

Da kommt die Salutogenese um die Ecke: Wuhuu… Neues Fremdwort! Salutogenese, schon mal gehört? Wahrscheinlich schon, denn gerade im Kontext von Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens sollte die Idee hinter dem Begriff geläufig sein.

Spannend ist – und darum geht’s im Beitrag – die Übertragung der Idee der Salutogenese und deren Dimensionen auf Organisationen als soziale Systeme. Die Leitfrage lautet also:

Wie sehen gesunde Organisationen aus? Und wie können wir diese gestalten?

Aber der Reihe nach:

Was ist Salutogenese?

Salutogenese bezeichnet – so Wikipedia – neben einer Fragestellung und Sichtweise für die Medizin vor allem ein Rahmenkonzept, „das sich auf Faktoren und dynamische Wechselwirkungen bezieht, die zur Entstehung und Erhaltung von Gesundheit führen.“

Im Gegensatz zur Pathogenese, die die Krankheit in den Mittelpunkt stellt, wird bei der Salutogenese versucht, die drei Einflussfaktoren Verständnis, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit als Kohärenzgefühle in den Mittelpunkt der Entstehung von Gesundheit zu stellen. Gesundheit ist damit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Risiko- und Schutzfaktoren stehen hierbei in einem Wechselwirkungsprozess.

Geprägt wurde der Begriff der Salutogenese durch den israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) in den 1980er Jahren. Ohne in die Tiefe zu gehen, war eine der Kernfragen seiner Forschung, wie es Menschen gelungen ist, unter den Bedingungen der KZ-Haft sowie in den Jahren danach ihre (körperliche und psychische) Gesundheit zu erhalten.

Gesundheit entsteht nach Antonovsky – wiederum sehr kurz gefasst – wenn Menschen ein Kohärenzgefühl haben.

Kohärenz umfasst nach Antonovsky die drei Dimensionen Verständnis, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit :

  • Verständnis meint die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen.
  • Machbarkeit ist die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können – das Gefühl der Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit (ähnlich dem Begriff der ‚Selbstwirksamkeitserwartung‘ nach Bandura).
  • Und Sinnhaftigkeit ist der Glaube an den Sinn des Lebens.

Heiner Keupp beschreibt die drei Komponenten des Kohärenzgefühl wie folgt:

„Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist.

  • Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen (Verstehensebene).
  • Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann (Bewältigungsebene).
  • Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Sinnebene).“

Die drei Ebenen bzw. die Dimensionen Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit und Sinn machen demnach Gesundheit aus.

Das ist sehr nachvollziehbar: Wenn ich das Gefühl habe, dass mein Leben für mich verstehbar, gestaltbar und sinnhaft ist, habe ich das Gefühl, lebendig, gesund zu sein, gestalten und mich entfalten zu können. Und dabei ist dieses Gefühl für jede*n von uns völlig individuell.

Wenn jedoch eine Dimension ins Wanken kommt, ich also den Überblick verliere, nicht mehr gestalten kann und/oder den Sinn meines Handelns oder mehr noch des Lebens verliere, gerät das komplette Konstrukt ins Wanken.

Schon hier kann man – mit Blick auf Führung und Personalarbeit, mit Blick auf HR, sehr tief einsteigen, damit die Menschen in den Organisationen gesund bleiben. So ist das Konzept der Salutogenese in der Mitarbeiterführung und Entwicklung sicherlich mehr als lohnenswert.

Mich interessiert aber, ob und wie es gelingen kann, die Dimensionen der Salutogenese auf Organisationen als Ganzes zu beziehen. Welchen Nutzen können also die Dimensionen der Salutogenese für Organisationen und Fragen der zeitgemäßen Organisationsentwicklung haben?

Und welche Handlungsoptionen lassen sich daraus ableiten?

Übertragung der Dimensionen der Kohärenz auf Organisationen

Noch einmal: Die Dimensionen Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit und Sinn machen Gesundheit aus. Wenn man Organisationen als soziale Systeme betrachtet (was für mich aus vielerlei Perspektive Sinn macht), kann man davon sprechen, dass Organisationen „lebendige“ Eigenschaften aufweisen. Denn „weder Menschen noch die Organisationen, in denen sie arbeiten, [sind] Maschinen.“ (Neue Narrative, #12, S. 16).

Aus diesem Verständnis heraus entwickeln Organisationen sich selbst, wollen von sich aus „lebendig bleiben“ (Autopoiese) und sind – ebenso wie das psychische System der Menschen – als nichttriviale Systeme nicht steuerbar im maschinellen Sinn.

Apropos Sinn…

Sinn

Sinn – als erste der Kohärenzdimensionen – wird dahingehend wichtig, wenn man den Zweck einer Organisation betrachtet: Organisationen benötigen zum Überleben einen Zweck, eine Existenzberechtigung. Organisationen ohne Zweck sterben. Oder sie werden künstlich, mit viel Marketing, am Leben erhalten.

Genau wie Menschen einen Sinn benötigen, um gut arbeiten zu können, benötigen Organisationen einen Sinn. Schon hier stellt sich die Frage, wie der Sinn, der Purpose, das Zusammenspiel zwischen Vision und Mission in Deiner Organisation ausgeprägt ist? Wann hat sich Deine Organisation das letzte Mal mit ihrem Sinn befasst? Wozu existiert Deine Organisation? Hör mal genau hin, vielleicht ist es etwas anderes, als das, was Du glaubst?

Selbstwirksamkeit

Das Selbstwirksamkeitserleben bzw. die Selbstwirksamkeitserwartung ist nicht nur wesentlich für die Gesunderhaltung von Menschen, sondern auch für ihre Entwicklung. Denn wer daran glaubt, etwas bewirken und auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln zu können, kann als Person gezielt Einfluss auf die Dinge und die Welt nehmen, statt äußere Umstände, andere Personen, Zufall, Glück und andere unkontrollierbare Faktoren als ursächlich für das eigene „Schicksal“ anzusehen (vgl. Wikipedia).

Wenn mir – was ja nunmal vorkommt – das Leben Aufgaben stellt, die ich lösen kann, geht es mir gut. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann. Und für Organisationen gilt das Gleiche: Welche Aufgaben sind zu bewältigen? Befassen wir uns mit dem, was wir können? Denn nur daraus erwächst (Selbst-)Wirksamkeit.

Verstehbarkeit

Verstehbarkeit bedeutet, die Umwelt als geordnet, konsistent und erklärbar einzuschätzen. Menschen, die Begründungen für das finden, was sich um sie herum ereignet, gehen davon aus, dass auch künftig überraschend eintretende Ereignisse eingeordnet und erklärt werden können. Der Blick auf und vor allem der Blick in Organisationen zeigt jedoch, dass wir Organisationen geschaffen haben, die hochgradig kompliziert gestaltet sind. Regeln, Rituale, Vorgaben, Prozesshandbücher, QM-Richtlinien und vieles mehr sind nicht nur nicht mehr nachzuvollziehen oder verstehbar. Diese Strukturen von Organisationen führen zur Blockade der Möglichkeit, sich schnell an veränderte Bedingungen anpassen zu können.

Und genau das – diese Anpassungsfähigkeit – ist die berühmte Agilität, von der alle immer sprechen. Nicht umsonst überschreibt Jos de Blok (bspw. in diesem Video, aber auch an vielen anderen Stellen) den bzw. zumindest einen Aspekt des Erfolgs von Buurtzorg mit den Worten „keep it small, keep it simple“. Halte es einfach.

Halte Deine Organisation einfach.

Die Umschreibung des „Needing Principles“ mit den Worten Do, what’s needed! unterstreicht diese Einfachheit, Verstehbarkeit eindrücklich.

Das ist im Kern auch der Grund, warum ich glaube, dass selbstbestimmt agierende Teams und Organisationen nicht nur – wie oftmals vorgebracht wird – ein Thema für „Akademiker*innen“ sind. Im Gegenteil wird erst durch das Wegfallen von Strukturen, Hierarchien, Machtspielchen und interner Politik Klarheit, Einfachheit und Verstehbarkeit geschaffen. So ließe sich andersherum argumentieren, dass die etablierten Strukturen unserer Organisationen viel mehr dem Machterhalt als der eigentlichen Wertschöpfung dienen.

Aus der Einfachheit heraus ergibt sich im Übrigen viel Raum und Freiheit für die so viel beschworene und in vielen Bereichen wirklich benötigte Innovation.

Schlussfolgerungen für die Organisationsentwicklung

Es wurde deutlich, dass die Übertragung des Konzepts der Salutogenese auf Organisationen durchaus sinnvoll sein kann.

Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit und Sinn sind nicht nur für Menschen, sondern auch für Organisationen in einer sich dynamisch verändernden, komplexen Welt erstrebenswerte Aspekte, um „gesund zu bleiben“.

Es geht darum, überschaubar und nachvollziehbar sinnvoll handeln zu können.

Aber was kannst Du in Deiner Organisation konkret tun, um einen Schritt weiter zu einer gesunden Organisation zu kommen?

Dazu hier ein paar Ideen für

Verstehbarkeit:

  • Habt ihr eure Prozesse dokumentiert? Falls nicht: Machen! Denn es hilft ungemein, wiederholende Prozesse einmal zu fassen und dann auch anhand des PDCA-Zyklus weiterzuentwickeln. Falls ja: Wann habt ihr euch im Team oder der Organisation das letzte Mal ernsthaft mit den Prozessen befasst, diese aktualisiert und entmüllt? Prozesse zu dokumentieren macht nur Sinn, wenn diese dann auch gelebt werden.
  • Gibt es sonstige Regeln und Vorgaben, die ihr festgelegt habt und denen ihr folgen müsst? Machen diese Regeln und Vorgaben Sinn? Wenn nicht, weg damit.
  • Wie ist die Aufbaustruktur der Organisation gestaltet? Wie viele Hierarchieebenen gibt es? Und machen die Sinn? Wenn nicht, lohnt es sich perspektivisch, diese abzubauen. Das klingt einfacher, als es ist, aber das Ziel einer verständlichen Organisationsstruktur wäre ja eine echte Vision, oder?
  • Wie steht es eigentlich um die Strategie in der Organisation? Klar gibt es eine (hoffentlich…), aber ist diese auch den Mitarbeiter* innen bekannt. Und mehr noch: Kennen die Mitarbeiter* innen und Teams ihre Aufgaben und Projekte, mit denen sie zur Erreichung der Strategie beitragen? Falls nicht, lohnt es sich, die Strategie noch einmal genauer anzuschauen und gemeinsam Ziele zur Erreichung der Strategie auf den unterschiedlichen Ebenen der Organisation abzuleiten.
  • Und überhaupt Transparenz: Wie transparent sind Entscheidungen? Wie transparent ist die Kommunikation in der Organisation? Wie transparent sind auch die finanziellen Kennzahlen der Organisation? Denn: Wir können von den Mitarbeiter* innen nicht verlangen, dass sie Verantwortung übernehmen, wenn die Rahmenbedingungen unklar sind.

Selbstwirksamkeit

  • Ist der Gesamtorganisation klar, was Mission und Vision, was Purpose der Organisation ist? Das ist gerade bei sozialen Organisationen gar nicht so einfach, denn man kann ja irgendwie alles. Was aber gehört nicht zum Aufgabenbereich der Organisation? Was kann und muss von anderen bearbeitet werden?
  • Ist allen Mitarbeiter*innen auf Teamebene klar, was Vision und Mission ihrer Arbeit ist? Falls nicht macht es Sinn, im Team über die Aufgaben und die Ausrichtung des Teams gemeinsam zu sprechen. Wozu ist das Team da?
  • Gibt es in der Bearbeitung von Aufgaben eine Überschneidung dessen, was die Mitarbeiter *innen können, wollen und sollen? Das ist relevant, denn nur, wenn die Motivation mit den Fähigkeiten und Kompetenzen zusammenfällt und die dann hervorkommenden Ergebnisse noch das sind, was Aufgabe der Organisation ist, wird wirklich gute Arbeit geleistet. Was muss verändert werden, um eine Passung der drei Aspekte Wollen, Können und Sollen zu erreichen?
  • Welche Herausforderungen auf individueller Ebene sind zu bewältigen, um die Selbstwirksamkeit im Beruf zu erhöhen? Sind die Mitarbeiter*innen in der Lage, sich selbst zu organisieren, so, dass sie nicht von den anfallenden Aufgaben überfordert sind? Man kann nur dann selbstbestimmt im Team arbeiten, wenn man seine Aufgaben und sich selbst (halbwegs 😉 gut auf die Reihe bekommt.

Sinn

  • Mal ehrlich: Wenn man davon ausgeht, dass Deine Organisation ein soziales System ist: Was würde die Organisation selbst sagen: Macht das, was sie tut, Sinn?
  • Und ebenfalls ehrlich: Wenn es keinen Sinn macht, ist es auch OK, eine Organisation, ein Projekt oder ein Produkt sterben zu lassen. Manchmal macht der Neuanfang mehr Sinn.
  • Über Purpose, Vision und Mission habe ich ja schon geschrieben. Aber kennst Du die Vision, Mission und Purpose Deiner Organisation? Wirklich? Und macht das noch Sinn? Und wird das, was in der Vision, Mission und dem purpose steht, in konkrete Strategien übersetzt? Was also hat Deine Arbeit mit dem zu tun, was Sinn macht?

Naja, kann man ja mal drüber nachdenken…

Oder konkret dran arbeiten.

Wenn Du dabei Unterstützung brauchst, sag gerne Bescheid 😉