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Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisation: Maßnahmen der Organisationsentwicklung

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Mit Blick auf meine Beratungsaufträge der letzten Monate ist es spannend zu sehen, dass zunehmend soziale Organisationen der Sozialwirtschaft und Vereine, die soziale, personenbezogene Dienstleistungen erbringen, Unterstützung bezogen auf die Frage suchen, wie ein guter Generationenwechsel gelingen bzw. wie die Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen zukunftsfähig gestaltet werden kann.

Interessant ist, dass zwar in jedem Verein und jeder Organisation der Zeitpunkt kommt, an dem die bisherigen Vorstandsmitglieder oder die Geschäftsführung ausscheiden. Eine Besonderheit von Organisationen und Vereinen der Sozialwirtschaft besteht aus meiner Sicht aber (unter anderem) in der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit insgesamt.

Im Folgenden werde ich einleitend auf diese historischen Entwicklungen eingehen, um darauf basierend die Ziele der Nachfolgeplanung zu beschreiben. Dann werden konkrete Maßnahmen der Organisationsentwicklung skizziert, die aus meiner Sicht grundlegend sind, um die Nachfolgeplanung gelingen zu lassen.

Historischer Blick auf die Entwicklung von Organisationen der Sozialen Arbeit

Nein, ich werde hier nicht die Gesamtentwicklung der Sozialen Arbeit darlegen. Hier zum Beispiel kann man dies viel besser nachlesen.

Mich interessiert hier die historische Entwicklung der Sozialen Arbeit in den 1970er/1980er Jahren.

Wichtig in dem Zusammenhang ist, dass die deutschen Fachhochschulen, die heute teilweise als Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) bezeichnet werden, in den 1970er-Jahren aus verschiedenen Bildungseinrichtungen wie Ingenieurschulen, Akademien und Höheren Fachschulen für Gestaltung, Sozialarbeit oder Wirtschaft entstanden.

Die Gründung dieses eigenständigen Hochschultyps wurde durch eine Grundsatzerklärung der Ministerpräsidenten am 5. Juli 1968 festgelegt. Am 31. Oktober 1968 wurde das „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Fachhochschulwesens“ verabschiedet, wodurch der Grundstein für die Etablierung der Fachhochschulen gelegt wurde. Anschließend erfolgten die entsprechenden Abkommen in den einzelnen Bundesländern (vgl. näher hier).

Für die Soziale Arbeit erfolgte damit „ein wichtiger Schritt zur Akademisierung und Verwissenschaftlichung, der getragen war von einem zunehmenden Professionalisierungsbedürfnis innerhalb der Sozialen Arbeit und begünstigt vom fortschrittsorientierten bildungspolitischen Klima der Zeit“ (Kruse, 2008, 42).

Aus diesen Entwicklungen in Verbindung mit Sparmaßnahmen (basierend bspw. durch die Ölkrise) und der demographischen Entwicklung („Boomer“), die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt der Sozialen Arbeit hatten, resultierte, dass ab Mitte/Ende der 70er Jahre Absolvierende begannen, Taxi zu fahren erfolgreich soziale Organisationen in Eigeninitiative aufzubauen.

Ausgehend von einem etwa 40 Jahre dauernden Berufsleben wird deutlich, dass die Menschen, die damals die heute teilweise großen Organisationen und Vereine auf den Weg brachten, kurz vor oder bereits in ihrem Ruhestand stehen.

Entsprechend deutlich zeigt sich seit einigen Jahren die Notwendigkeit, Nachfolgeplanungen aktiv anzugehen. Oder, wie Hamm et al. (2021, V) in ihrem Vorwort betonen:

„Eine Gründergeneration, die den sozialen und Bildungsbereich in seinen feinsten Unterscheidungen aufgebaut und geprägt hat, geht in den Ruhestand. Wir wissen es schon lange und die Zeit zum Handeln ist gekommen.“

Klar ist aber auch, dass die Nachfolgeplanung in eine Zeit fällt, die diese Nachfolge alles andere als einfach macht. Denn nicht nur die „Gründer:innen“ von damals gehen in den Ruhestand und suchen Nachfolger:innen. Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel in der Sozialwirtschaft gerade am Anfang steht und enorme Auswirkungen haben wird.

Daraus wiederum folgt, dass ein einfaches „Weiter so!“ oder auch ein „business as usual“ aufgrund fehlender Fachkräfte und deren geänderten Anforderungen an die Übernahme von Verantwortung insbesondere in kleinen und mittleren sozialen Organisationen und Vereinen nicht funktionieren kann. Es ist schon jetzt und wird auch in Zukunft nicht möglich sein, „einfach“ die Nachfolger:innen zu bestimmen und erwarten zu können, dass der Verein oder die Organisation weiterhin „funktioniert“.

Vielmehr gilt es, die Ziele der Nachfolgeplanung für die eigene Organisation zu bestimmen und darauf basierend Maßnahmen der Organisationsentwicklung abzuleiten, damit diese Ziele erreicht werden können und das Überleben der Organisation nachhaltig sichergestellt werden kann.

Aber was sind Ziele der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen?

Ziele der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen

Die Ziele der Nachfolgeplanung lassen sich übergreifend wie folgt zusammenfassen:

Kontinuität sichern: Wesentlich ist natürlich die Gewährleistung einer nahtlosen Fortführung der Aktivitäten des Vereins bzw. der Organisation bei Änderungen im Vorstand und Geschäftsführung. Das gilt zwar immer, wird aber insbesondere dann, wenn der Verein bzw. die Organisation bislang im Wesentlichen durch die Gründungspersönlichkeit geprägt wurde, zu einem Kernaspekt der Nachfolgeplanung.

Talententwicklung fördern: Um die Kontinuität sicherstellen zu können, ist es unabdingbar, frühzeitig in die Identifizierung, Entwicklung und Förderung von talentierten Mitarbeiter:innen zu investieren, um sicherzustellen, dass qualifizierte Personen in Schlüsselpositionen bereitstehen.

Wissenstransfer sicherstellen: Der Wissenstransfer umfasst die Übertragung von spezifischem Fachwissen, Erfahrungen und dem Wissen über Netzwerke von erfahrenen Führungskräften auf die nächste Generation.

Risikominderung: Die Reduzierung der Risiken, die mit erwarteten und unerwarteten Abgängen von Schlüsselpersonen verbunden sind, sichert wiederum die Kontinuität. Dies kann zum einen durch den Aufbau einer „Pipeline von qualifizierten Nachfolger:innen“ geschehen. Zum anderen ist aber der Aufbau eines funktionalen Prozessmanagements hilfreich, über das sichergestellt wird, dass die Arbeit schnell und reibungslos fortgeführt wird.

Unternehmenskultur bewahren: Hier bin ich zweigespalten. So kann die Sicherstellung, dass Werte und Kultur auch während des Übergangs aufrechterhalten werden, wichtig sein, um die Verunsicherung durch den Wechsel nicht zu groß werden zu lassen, hoch relevant sein. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, gerade den Neubeginn und die sich damit verändernde Kultur zu befördern.

Mitarbeiterbindung steigern: In Phasen des Übergangs gilt es, Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten für Mitarbeiter:innen zu schaffen, um ihre Bindung an die Organisation zu fördern. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels ist dies effizienter und effektiver, als auf neue Mitarbeiter:innen zu hoffen, die komplett neu eingearbeitet werden müssen. Hinzu kommt, dass der Weggang von Mitarbeiter:innen immer mit einem Weggang von Erfahrungswissen und Kompetenzen verbunden ist.

Strategische Ausrichtung unterstützen: Auch in Übergangsphasen gilt es, sicherzustellen, dass die Nachfolgeplanung mit den strategischen Zielen des Vereins bzw. der Organisation in Einklang steht und die langfristige Entwicklung unterstützt wird.

Transparenz und Fairness gewährleisten: Bei dem oben erwähnten Aufbau von Nachfolger:innen ist relevant, transparente und faire Prozesse für die Auswahl der Personen zu entwickeln, um das Vertrauen aller Mitarbeiter:innen zu stärken und mögliche Konflikte zu minimieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist das SCARF-Modell, in dem Fairness explizit als Grundlage für die Aufrechterhaltung der Motivation der Mitarbeiter:innen betont wird.

Compliance sicherstellen: Selbstverständlich gilt, auch bei der Nachfolge sicherzustellen, dass rechtliche Anforderungen und Governance-Standards in Bezug auf die Planung und Dokumentation von Nachfolgeprozessen sichergestellt werden.

Diese Ziele können je nach Arbeitsfeld, Größe und Ausrichtung der Organisation bzw. des Vereins und aufgrund individueller Umstände variieren. Unabhängig davon aber ist eine effektive Nachfolgeplanung unabdingbar, um die Stabilität, Kontinuität und Entwicklungsfähigkeit der eigenen Organisation bzw. des Vereins sicherzustellen.

Auch wenn oben bereits ein paar Aspekte angesprochen wurden, will ich im Folgenden explizit Maßnahmen der Organisationsentwicklung beschreiben, die für die Nachfolgeplanung im Verein bzw. der Organisation angegangen werden können.

Maßnahmen der Organisationsentwicklung

Vorauszuschicken ist, dass jede Organisation und jeder Verein unterschiedlich ist. Dies ist zwar eine Binsenweisheit, führt aber dazu, dass pauschale Antworten auf die Frage, wie eine gelingende Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen aussehen kann, nicht verallgemeinert werden kann.

Entsprechend verläuft auch die Organisationsentwicklung zur Gestaltung der Nachfolge nach dem „allgemeinen Vorgehen“ der Organisationsentwicklung. Dabei steht zu Beginn eine mehr oder weniger intensive Organisationsanalyse an, um die Probleme („Was ist das Anliegen/Problem?“) verstehen zu können. Damit geht auch die Zielklärung („Was wollen Sie erreichen? Was ist Ihr konkretes Ziel?“) einher.

Basierend auf der Analyse der Ausgangssituation erfolgt dann die Ideensammlung und Strukturierung möglicher Veränderungsschritte, Lösungswege bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung („Wie werden Sie dieses Ziel erreichen? Für welche Maßnahme(n) entscheiden Sie sich?“). Dies ist wiederum mit der zeitlichen, personellen und finanziellen Planung der Umsetzung („Welche Ressourcen/Unterstützung haben/brauchen Sie? Was sind die nächsten Schritte?“) verknüpft.

Dann erfolgt die Umsetzung der Maßnahmen sowie die Kontrolle der Durchführung („Ist die festgestellte Abweichung zwischen dem ursprünglichen Plan und dem augenblicklichen Stand ein Anlass für Korrekturen?“).

Den Prozess abschließend darf die Evaluation, Reflexion und der Transfer von Ergebnissen („Im Hinblick auf welche Kriterien ist der Prozess ein Erfolg? Haben wir das Ziel erreicht? Was wurde in dem Prozess der Bearbeitung individuell und kollektiv gelernt? Auf welche weiteren Situationen/Probleme sind die gemachten Erfahrungen anwendbar/übertragbar?“) nicht vernachlässigt werden. Aus der Evaluation werden dann die wiederum nächsten Schritte abgeleitet.

Hier habe ich diese „allgemeinen Schritte“ gelingender Organisationsentwicklung in einem fünfstufigen Modell beschrieben.

Spezifisch bezogen auf die Möglichkeiten der Nachfolgeplanung zeigen sich übergreifend folgende Maßnahmen als wirksam:

Definition von Zielen, Verantwortlichkeiten und Prozessen

Auch wenn dies als Basis funktionierender Organisationen angesehen werden kann, ist es zunächst wichtig, die Ziele, Verantwortlichkeiten und die Prozesse der Organisation bzw. des Vereins in den Blick zu nehmen und so zu gestalten, dass allen Beteiligten klar ist, was der Zweck des Vereins ist, wer für was zuständig ist und welche Regeln, Prozesse und Routinen eingehalten werden müssen.

Hier findest Du einen Beitrag zum GRPI-Modell, das die Bedeutung von Zielen, Zuständigkeiten, Prozessen und der Kommunikation in Teams und Organisationen hervorhebt und eine einfache, aber gute Orientierung für die Gestaltung gelingender Teams und Organisationen bietet.

Ein besonderer Fokus ist in diesem Schritt auf die Aufgaben und Zuständigkeiten von Vorstand und Geschäftsführung zu richten. Erst darüber wird transparent, welche Anforderungen an die Nachfolger:innen gestellt werden. Gerade in über Jahrzehnte gewachsenen und von Gründungspersönlichkeiten getragenen Organisationsstrukturen werden viele Aspekte implizit gelebt und nicht mehr explizit ausformuliert, was für Nachfolger:innen zu echten Herausforderungen führt.

Übergreifend geht es in diesem Aspekt um die Gestaltung von zeitgemäßen und für die Organisation bedarfsgerechten Organisationsstrukturen, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit fördern, um den Zweck der Organisation bzw. des Vereins auch zukünftig angemessen verfolgen zu können.

Entwicklung von Kompetenzprofilen

Gerade dann, wenn es um die Nachfolge von komplexen Führungspositionen geht, kann es sehr sinnvoll sein, basierend auf den definierten Zielen, Prozessen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten Kompetenzprofile für die potentiellen Nachfolger:innen zu entwickeln. Auch wenn es niemals möglich sein wird, die eierlegende Wollmilchsau aka neue Führungskraft zu finden, kann das Kompetenzprofil die fachlichen, sozialen und persönlichen „Mindest-Kompetenzen“ der Nachfolger:innen beschreiben.

Aufbau eines Talentpools

Auch wenn dieser Aspekt eigentlich eine Binsenweisheit ist, ist darauf hinzuweisen, dass es, um eine gute Auswahl potentieller Kandidaten für die Nachfolge zu haben, wichtig ist, sich frühzeitig Gedanken um die Nachfolge zu machen und einen Talentpool aufzubauen. In diesem Talentpool können Mitarbeiter:innen der Organisation bzw. des Vereins, die für eine Nachfolge in Frage kommen, erfasst und entsprechend auf die kommende Führungsposition(en) vorbereitet werden.

Förderung der Nachwuchsarbeit

Zum vorherigen Aspekt gehört zwangsläufig die Förderung der Nachwuchsarbeit im Verein bzw. der Organisation. Dies kann durch Angebote wie Mentoring-Programme oder (sinnvolle) Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen. Bezüglich der Weiterbildungsmaßnahmen macht es Sinn, sich mit dem „New Learning“ zu beschäftigen: Darunter ist zu verstehen, die Herausforderungen der Veränderungen der Organisation und die Prinzipien zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationsgestaltung mit der Frage zu kombinieren, wie wir als Individuen und als Organisationen jetzt und in Zukunft sinnvoll lernen.

Insbesondere geht es dabei um einen Wechsel von tayloristisch geprägten, top-down organisierten und vorgegebenen Lernsettings hin zu bedürfnisorientierten, dynamik- und komplexitätsrobusten, kollaborativen Lernökosystemen. Lernen und Weiterbildung wird damit ein möglichst selbstbestimmter und sozialer Prozess, der bedürfnis- oder problemorientiert an echte Herausforderungen gebunden ist (vgl. Foelsing, Schmitz, 2021, 107).

Zu denken ist bei der Nachwuchsarbeit auch an Mentoring-Programme, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen von den erfahrenen Führungskräften lernen. Hierbei ergeben sich durch technologische Möglichkeiten (bspw. virtuelle Plattformen, Kollaborationstools und künstliche Intelligenz) neue Chancen, um den Wissenstransfer zu fördern. Genauso können aber auch Reverse-Mentoring-Programme implementiert werden, bei denen jüngere Mitarbeiter:innen erfahrene Führungskräfte in Bezug auf aktuelle Technologien, Trends und Perspektiven schulen.

Erstellung eines Nachfolgeplans

Auf Grundlage der oben genannten Maßnahmen kann ein Nachfolgeplan erstellt werden. Dieser Nachfolgeplan sollte einen Zeitplan für die Nachfolgeregelung sowie die Vorgehensweise bei der Auswahl der Nachfolger:innen enthalten.

Fazit zur Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen

Hamm et al. (2021, 354) bringen es auf den Punkt:

„Die Führungsebene in sozialen Organisationen besteht in ihrer Konstellation teilweise seit Jahrzehnten und ist aufeinander abgestimmt. Die Nachfolgeplanung in solchen Settings ist nur schwer denkbar ohne:

  • Anpassungen in den organisationalen und
  • personellen Strukturen.“

Bei der Anpassung der organisationalen (und der in diesem Beitrag weniger beleuchteten personellen) Strukturen ist aber wieder zu betonen, dass es notwendig ist, die Individualität der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Vereins in den Blick zu nehmen. Basierend auf den je individuellen personellen und finanziellen Möglichkeiten und vorgegebenen Strukturen sowie basierend auf dem jeweiligen Arbeitsfeld mit seinen rechtlichen Rahmenbedingungen ist zu analysieren, wo die Organisation steht (Organisationsdiagnose zur Ist-Analyse). Darauf folgend können dann hypothesenbasiert funktionale Anpassungen und Entwicklungen getestet und implementiert werden.

Die skizzierten und sicherlich nicht abschließenden Maßnahmen zur Organisationsentwicklung im Rahmen der Nachfolgeplanung in Vereinen und sozialen Organisationen sind entsprechend als Anregungen zu verstehen, welche wesentlichen Optionen ergriffen werden sollten, um die eigene Organisation bzw. den eigenen Verein auch nach Weggang der Gründungspersönlichkeiten zukunftsfähig und resilient zu gestalten.

Quellen:

  • Foelsing, J., Schmitz, A. (2021): „New Work braucht New Learning – Eine Perspektivreise durch die Transformation unserer Organisations- und Lernwelten“. Wiesbaden: Springer.
  • Hamm, M., Heider-Winter, C., Leu, N.-A. (Hrsg., 2021): Strategische Nachfolgeplanung in Non-Profit-Organisationen. Fit für den Generationswechsel im Gemeinnützigkeitsbereich. Berlin: Springer Gabler.
  • Kruse, E. (2008): Das Studium der Sozialen Arbeit. Sozial Extra 32, 39–43.

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048, oder: Die Problemlösungen von heute sind die Lösungsprobleme von morgen!

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Vor Kurzem wurde ich angefragt, einen Beitrag für die Zeitschrift „FORUM sozial – Die Fachzeitschrift des DBSH“ zu verfassen. Dabei sollte es um die Frage gehen, wie ich mir soziale Organisationen im Jahr 2048 vorstelle. Zentral dabei sollte die Frage sein, wie sich Organisationen der Sozialen Arbeit entwickeln müssen, um die Herausforderungen im Jahr 2048 bewältigen zu können. 2048 – das ist ein Blick 25 Jahre in die Zukunft. Diese ist aber, wenig verwunderlich, zukünftig. Ich aber denke aus der Gegenwart, basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit und den absehbaren, kurzfristigen Herausforderungen. Und trotzdem habe ich versucht, meine Sicht auf „utopische Organisationen der Sozialen Arbeit“ zu werfen.

Der Beitrag ist dann aber etwas lang geworden, so dass ich noch einmal in die Überarbeitung gehen musste. Entsprechend findest Du hier die „long version“ und im Frühjahr 2024 dann den Beitrag in der Zeitschrift „FORUM sozial“. Jetzt aber los:


„Könnten wir eine kraftvollere, gefühlvollere und sinnvollere Art der Zusammenarbeit erfinden, wenn wir nur unser Glaubenssystem ändern?“

Laloux, F., 2014

Die Ausführungen von Frederic Laloux in seinem 2014 erschienenen Buch „Reinventing Organizations“ haben mich fasziniert. Im Kontext „sozialer Organisationen“ ist da vor allem Buurtzorg  als Vorreiterorganisation zu nennen. Buurtzorg ist eine niederländische Organisation im Arbeitsfeld der ambulanten Pflege mit mehr als 10.000 Mitarbeiter:innen, die in selbstorganisierten Teams zusammenarbeiten.

Das klingt doch schon sehr utopisch, oder?

Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der evolutionäre Zweck der Organisation

Laloux beschrieb 2014 drei wesentliche Durchbrüche (vgl. Laloux, 2014, 55ff) „neuer“ Organisationen:

  • – Selbstorganisation,
  • – Ganzheitlichkeit und
  • – die Orientierung am evolutionären Zweck der Organisation.

Für mich waren die Ausführungen von Laloux mehr als Utopie:

Sie passten – aus meiner damaligen Sicht – vielmehr „wie die Faust auf’s Auge“ oder besser: auf die von mir gesehenen Herausforderungen sozialer Organisationen.

Herausforderungen bestanden darin, so meine damalige Annahme, dass soziale Organisationen zu hierarchisch, zu langsam, zu wenig innovativ, zu reguliert, zu starr, zu you name it… wären, um die Dynamik und Komplexität der unterschiedlichen Arbeitsfelder in einer Welt im Wandel bewältigen zu können. Hier wäre die von Laloux beschriebene Selbstorganisation doch „der Hammer“?! Menschen entscheiden selbst, vor Ort, an der Basis, was zu tun ist?!

Meine Annahme bestand außerdem darin, dass die seit Jahren hohen Burnout-Raten der Mitarbeiter:innen daraus resultierten, dass es ihnen nicht möglich ist, ihre in der Organisation nicht gewünschten, aber in ihnen verborgenen Kompetenzen und Fähigkeiten zu zeigen. Wenn aber die empfundene Dissonanz zwischen dem, was tagtäglich getan werden muss und dem, was aus der Professionalität der individuellen Organisationsmitglieder fachlich als sinnvoll erachtet wird, permanent zu groß ist, ist Burnout doch vorprogrammiert, oder? Hier wäre die von Laloux beschriebene Einbeziehung des „ganzen Menschen“ doch der perfekte Lösungsansatz, oder? Und dies vor allem in Organisationen, in denen „der Mensch im Mittelpunkt“ steht?

Und ferner bestand meine Annahme darin, dass die Bedarfe der Klient:innen nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt würden. Wenn es gelänge, soziale Organisationen zu gestalten, die ihren „evolutionären Zweck“ verfolgten, dann müsste es gelingen, diese Herausforderung zu bewältigen und wirklich soziale Probleme zu lösen, oder?

Kurz: Meine Utopie bestand aus sozialen Organisationen, in denen Menschen ganzheitlich und vertrauensvoll zusammenarbeiten, um darüber dem Zweck der Organisationen zu dienen, denn, so Laloux (ebd., 83), “when organizations are built not on implicit mechanisms of fear but on structures and practices that breed trust and responsibility, extraordinary and unexpected things start to happen.

Warum sich meine Sicht auf soziale Organisationen gewandelt hat

Inzwischen, fast 10 Jahre nach dem Erscheinen von „Reinventing Organizations“ und der Befassung mit der Frage der theoretischen und praktischen Gestaltung von Organisationen in Verbindung mit den Besonderheiten von Organisationen der sozialen Arbeit, hat sich meine Sicht zu Teilen radikal gewandelt.

Der Wandel basierte insbesondere auf der Auseinandersetzung mit der Frage, was Organisationen eigentlich sind und wie sie sich verändern lassen. Und, wenig überraschend:

Diese Fragen hatten sich schon (viele) Menschen vor mir – und vor Laloux – gestellt.

Mich faszinierten und faszinieren in diesem Kontext insbesondere die Ausführungen rund um die Systemtheorie. Wenn hier noch die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit hinzugezogen werden, wird es zwar komplex, aber ebenso Augen öffnend (vgl. für einen sehr guten Überblick bspw. Gesmann, Merchel, 2019).

Entsprechend folgt hier eine Skizze dessen, was Organisationen sind, wie diese zu verändern sind und an der einen oder anderen Stelle auch der Blick auf die Besonderheiten von Organisationen der Sozialen Arbeit.

Am Ende gibt es dann aber doch noch einen kleinen, vielleicht ernüchternden, hoffentlich aber ermutigenden Blick auf meine Vorstellung utopischer Organisationen der Sozialen Arbeit.

Nehmt den Menschen aus dem Mittelpunkt, oder: Was sind Organisationen?

Ganz grundlegend (und verkürzt) lassen sich Organisationen (aus Perspektive der Systemthorie – vgl. bspw. Kühl, 2016, 18) als „soziale Systeme“ verstehen, die sich darüber definieren, dass sie sich zur Umwelt abgrenzen, einen oder mehrere Zwecke verfolgen, im Gegensatz zu bspw. Familien eine formale Struktur aufweisen und Mitgliedschaftsbedingungen formuliert sind. Das ist wenig überraschend.

Überraschender ist da schon die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen bestehen. Organisationen bestehen aus Entscheidungen, die in den formalen und informalen Strukturen der Organisation (teilweise schriftlich, teilweise mündlich) manifestiert sind.

Das wirkt auf den ersten Blick „unmenschlich“. Aber wenn man versucht, den Menschen „aus dem Mittelpunkt“ der Organisation zu nehmen, ergeben sich enorme Vorteile für das Be- und Verstehen von Organisationen, denn:

Wenn eine Organisation aus Menschen bestünde, ergäben sich bei jedem Weggang von Menschen aus der Organisation Lücken, die niemals von anderen Menschen gefüllt werden könnten, da Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit nun mal sehr verschieden sind. Mehr noch:

Wenn Organisationen um einzelne Menschen herum gebaut werden (was dann und wann bspw. bezogen auf Gründer:innen zu beobachten ist), „wird damit auf der Personenseite die Illusion genährt, dass die Organisation sich um die eigenen Anliegen und Wünsche herum entwickelt – d. h. die Organisation tritt in den Dienst der Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Diese Illusion hat katastrophale Auswirkungen auf die Organisation“ (Wimmer, 2019). Katastrophal wird es für die Organisation vor allem dann, wenn nach Weggang einer oder mehrerer Personen ihr Überleben gefährdet ist.

Anstatt also als „ganzer Mensch“ Teil der Organisation zu werden, übernehmen Menschen Rollen in der Organisation. Sehr einfach ausgedrückt wird man nicht als „Klaus“ oder „Claudia“ eingestellt, sondern – hoffentlich unabhängig vom Geschlecht – in der Rolle als „Sozialarbeiter:in“.

Das ist zum einen ein Gegenentwurf zu Laloux’s Ganzheitlichkeit, wobei er zumindest sieht, dass seine Idee eine echte Herausforderung ist:

„It is a challenge for any organization to create an environment where people feel safe to show up whole.“

Laloux, 2014, 151

Zum anderen zeigt der Blick auf die Spezifika sozialer Organisationen, dass wir mit dem „Herausnehmen des Menschen aus dem Mittelpunkt“ echte Probleme haben.

So erfüllen Sozialarbeiter:innen zwar als Mitglieder der Organisation die in der Stellenbeschreibung (oft diffus) formulierten Anforderungen. Gleichzeitig aber dient in der Sozialen Arbeit „die Person als Werkzeug“ (vgl. bspw. Spiegel 2008, S. 101 f.), wodurch eine Trennung von Person und Rolle erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird. Daraus resultiert eine auf Seiten der Mitarbeitenden schwer auszuhaltende Konfusion zwischen den Anforderungen der Organisation, den Bedarfen der Klientel und den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen. Auf Seiten der Organisation entsteht eine „dominierende Informalität“ (vgl. näher dazu Epe, 2022). D.h., dass die Einhaltung der von der Organisation entschiedenen Regeln, Vorgaben und verbindlichen Absprachen als nachrangig bzw. unwichtiger gesehen wird als das individuelle, teilweise sehr spontane und damit wenig planbare „Helfen wollen“ im Sinne der Klientel.

Im Übrigen sind die Rolle bzw. Stelle selbst, aber auch die in der Stellenbeschreibung festgehaltenen „formalen Erwartungen“ Beispiele für die Entscheidungen, aus denen Organisationen bestehen.

Wie können Organisationen verändert werden?

Auch wenn die Ausführungen sehr verkürzt waren, zeigt die Feststellung, dass Organisationen nicht aus Menschen, sondern aus Entscheidungen bestehen, den Ansatzpunkt für die Veränderung und Entwicklung von Organisationen.

Das klingt wiederum zunächst trivial: Wenn in der Organisation entschieden wird, „anders“ zu sein, dann funktioniert das auch. So könnte die Entscheidung getroffen werden, zukünftig anders, agil, innovativ, selbstorganisiert, vielleicht sogar „ganzheitlich“ zu arbeiten – und dann wird das so gemacht, fertig.

Die Realität in Organisationen wiederum zeigt jedoch, dass es so leicht eben nicht ist. Das resultiert daraus, dass zwischen mehreren sog. „Entscheidungsprämissen“ unterschieden werden muss, die den Spielraum für konkrete Entscheidungsmöglichkeiten festlegen. Zu unterscheiden sind zunächst a) prinzipiell unentscheidbare Entscheidungsprämissen und b) prinzipiell entscheidbare Entscheidungsprämissen. Das klingt holprig, das Gemeinte wird aber an folgendem Beispiel deutlich:

Als Führungskraft möchte man entscheiden, dass ab morgen alle Mitarbeitenden innovativ sind. Jedoch ist das Generieren neuer Ideen a) prinzipiell nicht entscheidbar, auch wenn dies schön wäre. Genauso wenig kann über die Haltung oder das „Mindset“ der Mitarbeiter:innen entschieden werden wie darüber, dass sie „nett“ miteinander umgehen, oder dass sich die vorhandene Organisationskultur gefälligst in eine vorab festgelegte Richtung zu ändern hat.

Die b) prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen in Organisationen sind wiederum zu unterteilen in i) prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämissen sowie in ii) prinzipiell entscheidbare, jedoch nicht entschiedene Entscheidungsprämissen. Hier sind wiederum viele Beispiele denkbar:

Die schon angesprochene Beschreibung der Stelle der Sozialarbeiter:in ist eine prinzipiell entscheidbare und entschiedene Entscheidungsprämisse wohingegen oftmals nicht offiziell entschieden wurde, dass Raucherpausen als Arbeitszeit geduldet und nicht von den Pausenzeiten abgezogen werden. Diese Entscheidung kann auch anders getroffen werden – sie ist damit prinzipiell entscheidbar, hier jedoch nicht entschieden.

Das klingt an dieser Stelle noch sehr theoretisch, eröffnet aber den Blick auf das, was zur Entwicklung von Organisationen entschieden werden kann. Das lässt sich kurz zusammenfassen:

Alle Entscheidungen, die den prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zugeordnet werden können, tragen zur Entwicklung und Veränderung von Organisationen bei. Insbesondere lassen sich die folgenden vier prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen unterscheiden:

  1. Zweckprogramme: Hier wird entschieden, welche Ziele oder Zwecke in der Organisation erreicht werden sollen.
  2. Konditionalprogramme: Vorgaben, Regeln und Prozesse der Organisation. Sie legen fest, was getan werden muss, wenn in einer Organisation ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird.
  3. Entscheidungswege: Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Hierarchien, Mitzeichnungsrechte und damit, verkürzt, das Organigramm.
  4. Personal: Hier kommt „der Mensch“ wieder ins Spiel, denn es macht für Organisationen einen großen Unterschied, wer welche Stelle wie ausfüllt. Unter den Bedingungen des Fachkräftemangels ergeben sich hier jedoch Probleme, wenn nicht mehr ausgewählt werden kann, sondern Menschen bspw. aufgrund von Fachkraftquoten eingestellt werden müssen.

Fraglich bleibt leider, was wie entschieden und damit formalisiert werden sollte und welche prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen besser nicht entschieden werden.

Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen!

So gibt es bezogen auf Zweck- und Konditionalprogramme, auf Entscheidungswege und das Personal leider nicht die eine „richtige Entscheidung“, da fraglich ist, was für die jeweils sehr individuelle Organisation unter ihren je spezifischen Bedingungen richtig ist. Das ist interessant, wenn man auf die aktuell sehr populären „Management-Moden“ schaut:

Agiles Management und agile Organisationen, „teal organizations“ (vgl. Laloux, 2014, 43ff), demokratische Organisationen, Holocracy, „irgendwas mit New Work“ und Vieles mehr wollen oftmals Lösungen sein für in der eigenen Organisation vielleicht gar nicht existierende Probleme. Aber wenn doch selbst die Apotheken-Umschau (im November 2022) ihren Titel mit „New Work“ schmückt – dann muss an dem New Work doch was dran sein, oder etwa nicht?

Nein, denn der Blick auf die oben skizzierten, in Organisationen prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen zeigt, dass dort ein „richtig“ nicht propagiert wird. Vielmehr geht es darum, für die jeweilige Organisation zu analysieren, zu bewerten und dann zu entscheiden, was funktional sein könnte. Daraus folgt, dass es OK ist, wenn Entscheidungswege steil oder flach sind und es ebenso OK ist, wenn in der einen Organisation viele, in der anderen hingegen wenige Regeln, Vorgaben und definierte Prozesse existieren. Es kann auch Organisationen geben, die nur einen Zweck verfolgen und Organisationen, die mehrere Zwecke in unterschiedlichen Bereichen verfolgen.

Man kann sich Organisationsentwicklung somit vorstellen wie das, was ein DJ an einem Mischpult betreibt: Es kann der Regler „Zwecke“, der Regler „Entscheidungswege“, der Regler „Konditionalprogramme“ oder auch der Regler „Personal“ bewegt / verändert werden.

Wichtig ist, dass die Veränderungen eines Reglers Auswirkungen auf die anderen Regler hat oder, anders formuliert: „Jede Veränderung eines Strukturaspekts hat (…) mehr oder minder starke Auswirkungen auf die anderen Strukturaspekte“ (Kühl, 2016, 29) – es bleibt jedoch unklar, welche Auswirkungen genau dies sein werden. Anders formuliert folgt daraus, dass „es ’normal‘ ist, zu erwarten, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen sein werden“ (Göpel, 2022, 33).

Zusammenfassend lässt sich festhalten:

Anstatt „Management-Moden“ und utopische Vorstellungen von Organisationen zu verfolgen, ist die zu beantwortende Frage gelingender Organisationsentwicklung:

Passen die Konditionalprogramme, Entscheidungswege und das Personal zu den von der Organisation verfolgten Zwecken oder (wo) sind Veränderungen vorzunehmen?

Utopische Organisationen der Sozialen Arbeit

Aber was heißt das jetzt für meine Vorstellung „utopischer“ sozialer Organisationen? Habe ich kein zukünftiges Wunschbild sozialer Organisationen, das zwar – wie für Utopien üblich – wahrscheinlich nicht realisiert werden kann, aber als Orientierung gebender „Nordstern“ dienen könnte?

Doch, das habe ich, aber es ist deutlich nüchterner, als vielleicht erwartet:

Meine Utopie von Organisationen der Sozialen Arbeit im Jahr 2048 sind Organisationen, die dazu beitragen, dass soziale Entwicklungen und der soziale Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen wirklich gefördert werden. Als Orientierung für die Organisationen dienen die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt.

Ob diese Organisationen nun klassisch hierarchisch strukturiert sind, agile Strukturen aufweisen, wenige oder viele Regelungen und Vorgaben von den Mitarbeiter:innen abverlangen, irgendwas mit New Work zu tun haben oder nicht, ist zweitrangig.

Zum einen ist es viel wichtiger, ein „Organisationsbewusstsein“ für soziale Organisationen zu entwickeln: Es ist und bleibt auch in Zukunft auf allen Ebenen sozialer Organisationen, insbesondere aber für Führungskräfte, relevant zu verstehen, was eine Organisation ist und wie „die Einstellungen des Mischpults“ verändert werden können / sollten / müssten.

Zum anderen ist mir wichtig, dass es den Menschen, die für die Führung und Gestaltung sozialer Organisationen Verantwortung tragen (und damit eigentlich allen Mitarbeiter:innen), gelingt, Motivation, Kraft, Mut und Optimismus aufrechtzuerhalten. Denn nur damit ist die kontinuierliche Arbeit an der zeitgemäßen und bedarfsgerechten Gestaltung sozialer Organisationen unter den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Sozialwirtschaft zu bewältigen.

Nebenbei bemerkt: Meine Utopie sozialer Organisationen ist nur eine kleine Abwandlung der deutschsprachigen Definition Sozialer Arbeit, die in meinen Augen als zeitlose Orientierung für Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit dienen und ebenso wunderbar als Orientierung für Entscheidungen in sozialen Organisationen herangezogen werden kann.


Wie aber sieht Deine Utopie sozialer Organisationen aus? Freue mich auf deinen Kommentar dazu…


Quellen:

  • Epe, H. (2022): Dominierende Informalität, oder: Warum sich soziale Organisationen so schwer entwickeln lassen. URL: https://www.ideequadrat.org/dominierende-informalitaet/. Download am 15.11.2023.
  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Auflage. Systemische soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Göpel, M. (2022): Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein.
  • Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brüssel: Nelson Parker.
  • Spiegel, Hiltrud von (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. München.
  • Wimmer, R. (2019): Agilität, Ambidextrie und organisationale Veränderungskompetenz. Rudi Wimmer über Erbe und Zukunft des Change Managements. Gr Interakt Org 50, S. 211–216, 2019. https://doi.org/10.1007/s11612-019-00458-0.

Sieben Gründe, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

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Barcamps sind nichts Neues. Den Ausführungen von Simon Dückert folgend lassen sich erste Ideen dazu bis ins Jahr 1998 zurückverfolgen. Wir waren etwas später dran, aber Sabine und ich haben immerhin im Jahr 2016 das erste #Sozialcamp (unter dem Link mein Review aus 2016) ins Leben gerufen. Und ich bin immer wieder geflasht von der Kraft des Formats Barcamp. Deswegen will ich Dir hier – angelehnt an die Ausführungen in meinem letzten Newsletter – darlegen, warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind.

Aktuell denke ich übrigens wieder darüber nach, ein offenes Barcamp-Format für die Soziale Arbeit ins Leben zu rufen (da das Sozialcamp leider durch Corona ziemlich gelitten hat ;-( Außerdem war ich gerade unterwegs in einer „Barcamp-Woche“. Konkret durfte ich in den letzten Tagen zwei Barcamps moderieren.

Das erste Barcamp der letzten Woche war ein „Semi-Barcamp“ rund um das Thema „Fachkräftemangel“ des Paritätischen Baden-Württemberg, bei dem im ersten Teil am Vormittag ein „klassisches Konzept“ gefahren wurde: Grußworte, Vorstellung eines Best Practice Modells und ein Impuls (den ich zum Thema Fachkräftemangel halten durfte). Der Nachmittag war dann als Barcamp-Format rund um das Thema „Fachkräfte“ konzipiert.

Das zweite Barcamp war ein „reines Barcamp“ ohne explizit vorgegebenes Thema. Es ging um Projektverzahnung, Vernetzung, die Generierung neuer Ideen und Ansätze usw., initiiert vom Verband der Privaten Krankenversicherungen.  

Warum Barcamps nicht „auch“ in der Sozialwirtschaft ankommen sollten…

Barcamps sind in den letzten Jahren auch in unseren „eher klassischen Branchen“ angekommen sind. Hier bspw. beim DRK, hier bei der Caritas in Freiburg oder hier als digitales Barcamp bei der Diakonie. Das sind nur einige Beispiele, es gibt viel mehr.

Aber aus meiner Sicht macht dieses „auch“ eigentlich keinen Sinn, denn: 

Barcamps und ähnliche Formate wie bspw. „Open Space“ sollten nicht „auch in der Sozialwirtschaft“ ankommen. 

Wir sollten uns vielmehr darüber wundern, dass es in unseren Kontexten überhaupt noch „klassische Konferenzformate“ gibt! 

Ja, diese klassischen Formate haben auch (noch) ihre Berechtigung, aber wenn man sich ein paar der Vorteile von offenen Konferenz- oder Barcamp-Formaten anschaut, wird es sehr deutlich.

Dazu macht es Sinn, sich die Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft vor Augen zu führen.

Vorteile von Barcamps in der Sozialwirtschaft  

1. Partizipation und Mitgestaltung: 

Barcamps zeichnen sich durch ihre offene Struktur aus, bei der die Teilnehmer:innen zu Teilgeber:innen werden und damit aktiv an der Gestaltung des Programms teilnehmen. Statt vordefinierter Vorträge und Workshops können die Teilgeber:innen selbst Themen, Fragen, Ideen… einbringen. Und wo, wenn nicht in sozialen Organisationen, wird Partizipation besonders groß geschrieben? Das gilt übrigens nicht nur für die Partizipation(swünsche) der Mitarbeiter:innen. Vielmehr wird auch von den Klient:innen aktive Beteiligung und Eigenverantwortung erwartet, da Soziale Arbeit ja genau darauf abzielt: Förderung von Autonomie und Selbstbestimmung. Autonomie und Selbstbestimmung aber findet in klassischen Settings kaum statt.

2. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: 

Herkömmliche Veranstaltungen haben oft ein sehr starr vorgegebenes Programm. Barcamps hingegen haben zwar auch einen Zeitplan (45 minütige Sessions). Sie sind aber inhaltlich flexibel und können sich damit an aktuelle Themen, Bedürfnisse und Interessen der Teilgeber:innen anpassen. Und gerade in der Arbeit mit Menschen ist Flexibilität und die Notwendigkeit, schnell auf Veränderungen zu (re-)agieren, im Alltag Standard. Warum nicht auch in Veranstaltungsformaten? 

3. Vielfalt an Themen und Perspektiven: 

Da bei Barcamps die Teilgeber:innen die Themen bestimmen, sind die Veranstaltungen inhaltlich enorm divers. Dies fördert den interdisziplinären Austausch und ermöglicht den Teilgeber:innen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und wo, wenn nicht in der Sozialwirtschaft, ist Diversität – themenbezogen, aber noch vielmehr bezogen auf die Menschen – hoch relevant? 

4. Netzwerken und Beziehungen: 

Barcamps bieten viel Gelegenheit zum Netzwerken. Die informelle Atmosphäre, das „Barcamp-Du“ und die Möglichkeit, sich aktiv in Diskussionen einzubringen, erleichtern es, neue Kontakte zu knüpfen und bestehende Beziehungen zu vertiefen. Netzwerk-, vor allem aber Beziehungsgestaltung...muss ich nicht vertiefen, oder? 

5. Geringe Kosten:

Barcamps sind oft kostengünstiger als herkömmliche Konferenzen. Man muss keine Referent:innen bezahlen (auch wenn eine Moderation von außen hilfreich ist, you can call me ;-), Man muss die Räume nicht wahnsinnig technisch ausstatten usw. Vielmehr leben Barcamps zum einen von der Partizipation der Teilgeber:innen (s.o.) und zum anderen vom „Werkstattcharakter“, dem „Unfertigen“, dem Gestaltbaren. Und weniger Kosten…muss ich nicht vertiefen, oder?

6. Informelle Atmosphäre: 

Herkömmliche Veranstaltungen sind oft sehr „förmlich“, während Barcamps eine entspannte, „informellere“ Atmosphäre bieten. Und falls Du an der Stelle Lust hast, kannst Du meinen Beitrag zur „dominierenden Informalität in sozialen Organisationen“ lesen. Hier, in Barcamps, ist die Informalität hochgradig funktional (was bei dominierender Informalität in der Gestaltung der Zusammenarbeit nicht immer der Fall ist). 

7. Wissensaustausch und Lernen: 

Die offene Natur von Barcamps fördert den Wissensaustausch und das gemeinsame, selbstbestimmte Lernen. Die Teilgeber:innen profitieren von den Ideen und Erfahrungen der anderen und in kurzer Zeit entsteht Verbindung, Verbundenheit und persönliche ebenso wie inhaltliche Netzwerke. Und das (neues) Lernen für Menschen in und soziale Organisationen insgesamt wichtig ist, kannst Du bspw. hier nachlesen. 

Warum Barcamps die Möglichkeit zum Umgang mit der VUCA-Welt sind

Was mich aber über all diese Punkte hinaus am Meisten fasziniert, ist die Möglichkeit, wie es in Barcamps gelingt, mit der uns alle beschäftigenden Komplexität umzugehen

Durch all die oben genannten Aspekte und Vorteile wird es möglich, komplexe Fragen so anzugehen, dass nicht unterkomplexe Antworten gegeben, sondern die Welle der Komplexität gemeinsam gesurft wird. Denn: 

Für fast alle Fragen, die Soziale Organisationen, Bildungseinrichtungen, Verwaltungen… aktuell bewegen (Fachkräftemangel, KI, Klima, Krieg, Einsparungen und Co.) gibt es nicht die eine richtige Antwort.  

Vielmehr sind diese Fragen nur gemeinsam, interdisziplinär und sektoren- bzw. innerhalb von Organisationen bereichsübergreifend anzugehen.

Komplexität zu bewältigen braucht Tests und Experimente.

Es ist auszuprobieren, es ist gemeinsam zu experimentierenwie eine bessere Zukunft gestaltet werden kann. 

Und aus den Ergebnissen, die in den Sessions der Barcamps entstehen, lassen sich genau diese „Experimente“ gestalten:

  • Es können sich neue Netzwerke ergeben – bspw. zum Thema „Nutzung von KI in der eigenen Organisation“.
  • Es können konkrete Lösungen erarbeitet werden – bspw. für spezifische Fragen.
  • Es kann aber auch ganz einfach Austausch stattfinden, der – vielleicht – im Sinne der Serendipität – zu neuen, bislang nicht gedachten Ideen und Lösungen führt.

Organisationsinterne Barcamps

Barcamps werden in den meisten Fällen entweder ganz offen angeboten (bspw. das Sozialcamp von damals…) oder häufig durch Verbände initiiert, die ihre Mitgliedseinrichtungen zu bestimmten Themen zusammenbringen wollen (siehe die Beispiele oben).

Es ist aber nicht nur möglich, sondern auch hochgradig sinnvoll, ein Barcamp innerhalb der eigenen Organisation – bspw. als Alternative zu einer klassischen Klausur – zu organisieren. Hilfreich dazu ist es, ein paar Schritte zu beachten:

  • Interesse wecken: Mitarbeiter:innen über die Idee und Grundanliegen eines Barcamps informieren um ihr Interesse zu wecken.
  • Organisationsteam bilden: Ein Team zusammenstellen, das die Veranstaltung planen und koordinieren kann.
  • Rahmenbedingungen schaffen: Einen geeigneten Ort und Zeitpunkt festlegen sowie die notwendige technische Ausstattung sicherstellen.
  • Teilnehmer einbinden: Die Mitarbeiter:innen dazu ermutigen, Themen für das Barcamp vorzuschlagen und abzustimmen, um eine relevante Agenda zu erstellen.
  • Kommunikation fördern: Die Teilgeber:innen aktiv dazu ermutigen, ihre Ideen und Meinungen während der Veranstaltung zu teilen.
  • Dokumentation: Alle Ergebnisse dokumentieren (und im Nachgang aufbereiten).
  • Feedback sammeln: Nach dem Barcamp Rückmeldungen sammeln, um Verbesserungen für zukünftige Veranstaltungen zu identifizieren.

Eine richtig gute Anleitung zur Organisation von einem Barcamp findet sich übrigens im lernOS Barcamp Leitfaden. Das lohnt sich wirklich.

Zukunft ermöglichen, oder: Warum Barcamps wichtig für die Entwicklung sozialer Organisationen sind

Auch wenn die Ausführungen für viele wahrscheinlich nicht besonders neu waren oder manche von Euch vielleicht schon Barcamps besucht haben, finde ich es relevant, immer mal wieder darauf zu verweisen, dass es Wege gibt, anders an übergreifende oder auch organisationsinterne Herausforderungen heranzugehen.

Und die Herausforderungen, die es heute und in Zukunft zu bewältigen gilt, sind enorm. Entsprechend plädiere ich hier, als eine Option, für die Barcamp-Methode.

Barcamps aber sollten keine exotischen „Experimente“ sein, sondern vielmehr zum Standardformat für Veranstaltungen werden, die zur Ermöglichung der Zukunft anregen

Ach ja, im Kleinen, im Team oder auch in organisationsinternen Netzwerken, lohnt sich auch ein Blick auf die Methode des „Lean Coffee“, um gemeinsam an neuen Ideen und der Entwicklung der Organisation zu arbeiten.

Wie organisationale Resilienz in Sozialen Organisationen gestaltet werden kann: Ansätze, Herausforderungen und Lösungen

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Die Herausforderungen, denen Soziale Organisationen gegenüberstehen, sind enorm. Spannend ist, dass die sich überlagernden gesellschaftlichen Probleme und Polykrisen nicht nur akut sind, sondern sich gegenseitig verschärfen (vgl. hier). Dramatisch dabei ist, dass sich aktuell kaum erkennbare politische Lösungen abzeichnen. Vor dem Hintergrund dieser mehr als herausfordernden Situation ist es entscheidend, dass Menschen in und – hier liegt mein wesentliches Interesse in der Organisationsentwicklung – Soziale Organisationen übergreifend resilient bleiben. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, wie organisationale Resilienz erreicht werden kann.

Dazu findest Du im Folgenden einige Ideen und Ansätze. So wird einführend der Begriff der organisationalen Resilienz definiert. Daran anschließend werden die aktuell diskutierten Ansätze organisationaler Resilienz skizziert und ein Blick auf die besonderen Herausforderungen sozialer Organisationen geworfen. Abschließend wird ein Vorgehensmodell zur Gestaltung organisationaler Resilienz beschrieben, dass Dir in Deiner Organisation helfen kann, Schritte in Richtung „Krisenfestigkeit“ und damit organisationaler Resilienz zu gehen.

Der Beitrag basiert auf einer Ausformulierung eines meiner IdeeQuadrat Newsletter, den ich vor Kurzem verfasst habe. Falls Du Lust hast, regelmäßig Ideen und Gedanken rund um New Social Work, rund um Organisationsentwicklung sozialer Organisationen, Tipps, Links, Infos und mehr zu bekommen, kannst Du den Newsletter hier abonnieren.

Und als Transparenzhinweis: Ja, ich habe die Gratisversion von ChatGPT für erste Ideen zum Text genutzt und verwende auch einige Abschnitte davon hier im Text.

Was ist organisationale Resilienz?

Organisationale Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit einer Organisation, sich an Veränderungen, Störungen, Krisen und unerwartete Herausforderungen anzupassen und dennoch effektiv zu funktionieren. Dabei wirken verschiedene Aspekte und „Qualitäten einer Organisation auf der Mikro-, Meso- und Makroebene [zusammen], die das Unternehmen widerstandsfähig und flexibel für die Handhabung von Belastungen und Krisen machen“ (vgl. Heller, J. (Hrsg.) (2019). Resilienz für die VUCA-Welt. Heidelberg: Springer, 134).

Der Begriff der organisationalen Resilienz ist eng mit dem Konzept der Resilienz in der Psychologie verbunden. Dort beschreibt es die Fähigkeiten einer Person, in schwierigen Zeiten widerstandsfähig zu bleiben und sich von Rückschlägen zu erholen.

Im organisatorischen Kontext geht es bei Resilienz inbesondere um:

  1. Anpassungsfähigkeit: Eine resiliente Organisation kann sich schnell auf neue Situationen einstellen und flexibel auf Veränderungen reagieren. Dies kann bedeuten, dass sie Geschäftsmodelle, Entscheidungswege, Prozesse oder Strategien verändern kann, um sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
  2. Krisenbewältigung: Resiliente Organisationen sind in der Lage, mit Krisen und unvorhergesehenen Herausforderungen effektiv umzugehen. Sie haben bspw. Notfallpläne und -verfahren, um in Krisensituationen zu reagieren und den Betrieb aufrechtzuerhalten.
  3. Lernfähigkeit: Eine resiliente Organisation lernt aus Erfahrungen und Fehlern. Es werden regelmäßig Restrospektiven und Nachbetrachtungen durchgeführt, um zu verstehen, was schief gelaufen ist. Darauf basierend werden Maßnahmen zur Verbesserung erarbeitet und umgesetzt.
  4. Kommunikation: Effektive, effiziente und transparente Kommunikation ist ein wichtiger Faktor für organisationale Resilienz. Die Fähigkeit, Wissen und Informationen innerhalb der Organisation zu teilen und mit internen wie externen Stakeholdern zu kommunizieren, hilft, Unsicherheit zu reduzieren und Vertrauen aufzubauen.
  5. Ressourcenmanagement: Resiliente Organisationen verwalten ihre Ressourcen sorgfältig, um sicherzustellen, dass sie in schwierigen Zeiten ausreichend Kapazitäten und Mittel haben, um weiterhin funktionieren zu können.
  6. Risikomanagement: Eine wichtige Komponente der organisatorischen Resilienz ist die Identifizierung und Bewertung von Risiken. Durch die proaktive Erkennung von potenziellen Bedrohungen können Organisationen Maßnahmen ergreifen, um sich besser darauf vorzubereiten.

Kurz: Organisationale Resilienz trägt dazu bei, das Überleben und damit auch den langfristigen Erfolg von Organisationen sicherzustellen. Dabei geht es nicht allein darum, auf unmittelbare Herausforderungen zu reagieren, sondern proaktiv auf eine langfristige Fähigkeit zur Anpassung und Überwindung von Schwierigkeiten hinzuarbeiten.

Bei der Befassung mit organisationaler Resilienz ist es hilfreich, die Ebenen „Mitarbeitende“, „Teams“ und die „Organisation als Ganzes“ zu unterscheiden.

So ist a) „organisationale Resilienz aus Sicht der Beschäftigten (…) dann gegeben, wenn das resiliente Verhalten durch organisationale Ressourcen unterstützt wird. Diese Ressourcen umfassen Aspekte wie etwa: Handlungsspielraum Unterstützung durch Vorgesetzte, angemessene Arbeitsmenge und Arbeitsintensität“ (vgl. ebd., S. 104, Hervorhbg. durch den Verf.).

Aus b) der Perspektive von Teams ist organisationale Resilienz dann gegeben, wenn folgende Facetten berücksichtigt sind (vgl. ebd.):

  • Die Organisation hält die Mitarbeitenden über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden.
  • Die Organisation schafft ein Verständnis der Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation.
  • Die Organisation stellt Ressourcen flexibel bereit, um eine Reaktion auf unvorhergesehene Probleme zu ermöglichen.

Und übergreifend, aus c) der Perspektive der Organisation, gibt es sogar eine ISO-Norm zu organisationaler Resilienz (22136:2017), in der die folgenden 9 Elemente organisationaler Resilienz beschrieben werden (vgl. näher dazu bspw. hier):

  1. Gemeinsame Vision und Klarheit über den Zweck: Eine resiliente Organisation zeichnet sich durch die gemeinsame Vision, klare Ziele und gemeinsame Werte aus. Dies wird auf allen Hierarchieebenen geteilt.
  2. Verständnis des internen und externen Umfelds und Einflussnahme: Eine resiliente Organisation verfügt über ein tiefes Verständnis der internen und externen Systeme, in denen sie agiert. Dies ermöglicht der Organisation, aktiv Einfluss zu nehmen und Möglichkeiten zur Anpassung zu schaffen.
  3. Führung, die Unsicherheit und Scheitern akzeptiert und ermutigt: In einer resilienten Organisation herrscht eine Führungskultur, die es den Mitarbeitenden erlaubt, Unsicherheiten und Veränderungen anzunehmen und zu bewältigen.
  4. Festlegung von relevanten Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen: Eine resiliente Organisation verankert gemeinsame Überzeugungen und Werte, positive Einstellungen und Verhaltensweisen fest in der Kultur, die für jeden Einzelnen von Bedeutung sind.
  5. Teilen von Informationen und Wissen: Die Mitglieder einer resilienten Organisation teilen aktiv Informationen und Wissen. Das Lernen aus Erfahrungen, einschließlich Fehlern, wird unterstützt und gefördert.
  6. Verfügbarkeit von Ressourcen: Eine resiliente Organisation verfügt über Ressourcen wie qualifizierte Mitarbeitende, finanzielle Mittel, Gebäude, Informationen und Technologie, um die anfälligen Bereiche der Organisation abzusichern und eine schnelle Anpassung an sich ändernde Umstände zu ermöglichen.
  7. Entwicklung und Koordination der Unternehmensbereiche: In einer resilienten Organisation werden die verschiedenen Unternehmensbereiche (bspw. Personalwesen, Qualitätsmanagement, Betriebliches Gesundheitsmanagement, Krisenmanagement und Informationstechnologie), definiert, entwickelt und koordiniert. Dies geschieht im Einklang mit den strategischen Zielen der Organisation.
  8. Evaluierung und Unterstützung kontinuierlicher Verbesserung: Eine resiliente Organisation bewertet ihre Ergebnisse und lernt aus Erfahrungen, um Chancen für kontinuierliche Verbesserung zu identifizieren.
  9. Fähigkeit, Veränderungen zu antizipieren und zu managen: Eine resiliente Organisation erkennt frühzeitig zukünftige Veränderungen, kann angemessen darauf reagieren und diese erfolgreich bewältigen.

Organisationale Resilienz und die besonderen Herausforderungen sozialer Organisationen

Meine erste Überlegung war, jeden der einzelnen Aspekte organisationaler Resilienz aus der ISO-Norm herauszugreifen und in Bezug zu den Besonderheiten sozialer Organisationen zu reflektieren. Der Aufwand dahinter ist jedoch enorm und der Mehrwert für Dich wahrscheinlich eher begrenzt… Entsprechend habe ich aus den drei Bereichen a) Mitarbeitende, b) Teams und c) Organisationen jeweils einen Aspekt herausgegriffen, die ich als besonders beachtenswert empfunden habe: 

  1. Auf Ebene der Mitarbeitenden ergeben sich spätestens durch den Fachkräftemangel Herausforderungen bezogen auf die angemessene Arbeitsmenge und Arbeitsintensität. Es ist keine Raketenwissenschaft, festzustellen, dass bei gleichbleibender Arbeitsmenge (bspw. zu betreuende Kids in der Kita) und abnehmendem Personal die Arbeitsmenge für die verbleibenden Mitarbeiter:innen steigt. In den Kernprozessen Sozialer Organisationen fehlt die Möglichkeit der Automatisierung (fast) vollständig.
  2. Auf Ebene der Teams sind zum einen die Ressourcen für Unvorhergesehenes (sog. Slack Ressources) fraglich: Gibt es sowas überhaupt oder sind soziale Organisationen „komplett auf Kante genäht“? Spannender finde ich aber, dass, so die obigen Ausführungen, Resilienz in Teams gefördert wird durch ein klares Verständnis der Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation. Mein Blick in soziale Organisationen zeigt jedoch immer wieder, dass nicht nur das Verständnis der Strukturen und Prozesse, sondern Strukturen und Prozesse überhaupt fehlen. Da fällt es dann entsprechend schwer, ein Verständnis dieser zu entwickeln.
  3. Auf Ebene der „Organisation als Ganzes“ könnte ich vieles, will aber nur das erste Element herausgreifen: Resiliente Organisationen antizipieren Veränderungen. Dazu braucht es die Fähigkeit, sog. irritationsrelevante Informationen überhaupt wahr- und dann auch noch aufnehmen zu können. Das klingt einfacher, als es ist, denn: Organisationen als soziale Systeme grenzen sich – sehr verkürzt – bewusst von ihrer Umwelt ab. Sie ignorieren bewusst viele Informationen, die vielleicht wichtig sein könnten, um mit der Komplexität überhaupt umgehen zu können: Hochschulen schauen auf das Hochschulsystem, soziale Organisationen beobachten die Entwicklungen der Sozialgesetzgebungen, Krankenhäuser beobachten die Entwicklungen im Medizinsektor und so weiter… Würden alle Informationen einfließen, wäre das System überlastet. Wenn man sich aber bspw. die Entwicklungen rund um KI oder AI anschaut (ich empfehle gerade diese Podcast-Episode sehr), stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese haben? Dabei reicht es nicht aus, dass einzelne Menschen in der Organisation sich mit diesen Fragen befassen. Vielmehr muss gegeben sein, dass es zu „anschlussfähigen Kommunikationen“ in der Organisation kommt.

Noch einmal: Ich hätte auch andere Aspekte herausgreifen können, die die Entwicklung organisationaler Resilienz in sozialen Organisationen erschweren. So wäre bspw. die Herausforderungen durch die Abhängigkeit von Kostenträgern (vgl. das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis) ebenso erwähnenswert wie die Frage, ob und wie es gelingen kann, die Lernfähigkeit als Mitarbeiter:in, Team und Gesamtorganisation zu steigern.

Und trotz dieser Herausforderungen müssen wir uns angesichts der skizzierten Veränderungen damit befassen…

…wie die Stärkung der organisationalen Resilienz auch in sozialen Organisationen gelingen kann!

Abschließend möchte ich einen Schritt-für-Schritt-Ansatz zur Stärkung der organisationalen Resilienz in Sozialen Organisationen empfehlen. Und ganz ehrlich: Es geht um die Gestaltung und Entwicklung zeitgemäßer und bedarfsgerechter Organisationen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber der Reihe nach:

Zu Beginn der Entwicklung resilienter Organisationen steht a) eine umfassende Bestandsaufnahme, gefolgt von b) einer gründlichen Resilienz-Diagnose und endet schließlich mit c) gezielten Maßnahmen zur Stärkung der relevanten Fähigkeiten.

Bestandsaufnahme und Resilienz-Diagnose

Hilfreich für die Bestandsaufnahme bzw. die „Ist-Analyse“ ist die Orientierung an einem Management-Modell, das hilft, alle Bereiche einer Organisation in den Blick zu nehmen. Denkbar ist bspw. eine Befassung mit dem St. Galler Management Modell. Aber etwas Eigenwerbung darf hier ja ruhig sein…

Deswegen empfehle ich das – aus meiner Sicht natürlich – hilfreiche Werkzeug zur Bestandsaufnahme – die IdeeQuadrat New Work Canvas.

In diesem Werkzeug finden sich zahlreiche Fragen, die dazu beitragen können, die Organisation zu analysieren und über Vorgänge in der Organisation zu reflektieren, um dann auf der Reflexion basierend Entscheidungen treffen zu können, die zur Gestaltung der organisationalen Resilienz dienen.

Kategorien, die in der Arbeit mit dem IdeeQuadrat New Work Canvas in den Blick genommen werden, sind:

  • Vision, Zweck und Identität
  • Sachmittel und Ressourcen
  • Optimierung, Innovation und Exnovation
  • Strukturen und Entscheidungswege
  • Interne und externe Stakeholder
  • Prozesse und Regeln
  • Strategien und Konzepte
  • Mandate und Funktionen
  • Kommunikation

Bei der Bestandsaufnahme und der damit einhergehenden Resilienz-Diagnose wird der Blick zunächst auf die bestehenden Herausforderungen in der Gegenwart gerichtet. Der Blick auf die Herausforderungen ist insofern relevant, da zum einen oftmals unklar ist, wie die Vorgänge in meist hochgradig dezentralen sozialen Organisationen gestaltet sind und zum anderen nur über die wahrgenommene Notwendigkeit der Entwicklung ausreichend „Veränderungsenergie“ erzeugt werden kann, um (sofern notwendig) tiefgreifende Anpassungen vorzunehmen.

Gezielte Maßnahmen zur Stärkung der organisationalen Resilienz

Der dritte Schritt ist die Entscheidung und Umsetzung gezielter Maßnahmen zur Stärkung der Organisationalen Resilienz. Diese sind je nach Herausforderung der jeweiligen Organisation hochgradig individuell. Entsprechend ist es schwierig, hier „für alle passende Maßnahmen“ zu beschreiben.

Der Blick auf die in der ISO-Norm aufgeführten Aspekte jedoch eröffnet zumindest eine Orientierung dessen, was für eine resiliente Organisation gegeben sein sollte. Orientiert an den Kategorien des IdeeQuadrat New Work Canvas ist es entsprechend relevant…

  • …sich über die Vision und (vor allem) die Mission der eigenen Organisation(seinheit) bewusst zu werden: Die Mission, der Zweck, von mir aus auch der „Purpose“ der Organisation ist relevant, damit allen Beteiligten klar ist, woran die Organisation arbeitet. Die Fokussierung auf eine erstrebenswerte Mission (und Vision), in der auch die emotionalen Aspekte innerhalb der Organisation berücksichtigt werden, bietet eine klare Ausrichtung, an der sich gemeinsame Strategien und Prozesse orientieren können.
  • …sich den vorhandenen Ressourcen bewusst zu sein und diese krisenfest zu entwickeln. Dabei sind es in dieser Kategorie vornehmlich finanzielle und personelle Ressourcen und Sachmittel. Hinzu kommen aber auch Gebäude oder die digitale Infrastruktur ebenso wie die Kompetenzen und Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen. Krisenfest entwickeln heißt übrigens nicht ausschließlich, die Ressourcen auszubauen und um jeden Preis zu wachsen. Auch der Blick auf Ineffizienzen und damit einhergehende Ressourceneinsparungen ist relevant.
  • …Prozesse zu gestalten, die es ermöglichen, aus Erfahrung zu lernen. Lernen ist umfassend zu verstehen. So sind zum einen regelmäßige Möglichkeiten zu schaffen, hypothesenbasiert Bestehendes (bspw. Prozesse, Abläufe, Angebote, Geschäftsmodelle) zu optimieren und weiterzuentwickeln. Hinzu kommt die Entwicklung der Innovationsfähigkeit, unterstützt durch ein passfähiges Innovationsmanagement. Nicht außer acht gelassen werden darf aber auch hier die Möglichkeit, explizit zu exnovieren und das Bestehende auf allen Ebenen infrage zu stellen. Hierbei ist relevant, internes und externes Wissen in den Prozess der Optimierung, Innovation und Exnovation zu integrieren.
  • …Strukturen zu gestalten, die Anpassungsfähigkeit ermöglichen. Das klingt leichter, als es in der Realität ist. Denn: In sozialen Organisationen geht es nicht immer um die Gestaltung „agiler Organisationsstrukturen“. Diese sind – in ihrer Grundstruktur – oftmals aufgrund der Dezentralität gegeben. So kümmern sich (kleine) Teams um die Wertschöpfung vor Ort, in Wohngruppen, Beratungsstellen, regionalen Einrichtungen. Anpassungsfähigkeit kann hier auch bedeuten, Klarheit (auch in der Krise) über die Gestaltung transparenter Entscheidungswege (Hierarchien) zu schaffen, anstatt Hierarchie ausschließlich „zu verteufeln“.
  • …zukunftsfähige Lern- und Entwicklungswege für die Menschen in der Organisation zu schaffen. Das Personal ist das wesentliche Kapital sozialer Organisationen. Dies gilt nicht nur, aber deutlich verstärkt in Zeiten des Fachkräftemangels. Entsprechend gilt es, sicherzustellen, dass die Kompetenzen der Mitarbeitenden mit aktuellen und zukünftigen Anforderungen korrelieren! Dies erhöht zum einen die Mitarbeiter(ver)bindung und sichert zum anderen das Überleben der Organisation. Hier sind aus meiner Sicht die Ansätze des New Learnings enorm hilfreich.
  • …transparente und funktionale Regeln und Prozesse zu schaffen, die Zusammenarbeit sicherstellen. So fällt mir immer wieder auf, dass Kern-, Unterstützungs- und Managementprozesse entweder gar nicht sind definiert oder nicht bekannt sind. Diese sind jedoch insbesondere in Krisenzeiten hilfreich, um den Betrieb verlässlich aufrechtzuerhalten. Es gilt jedoch auch, bestehende Vorgaben und Prozesse im Sinne der Exnovation zu hinterfragen und nicht funktionale Prozesse abzuschaffen.
  • …klare und sinnvolle strategische Stoßrichtungen für die (nahe) Zukunft zu definieren. Denn: Sofern nicht klar ist, wo die Entwicklungsrichtung der Organisation liegt, worein heute und in Zukunft investiert werden soll (und muss), bleibt auch in der Krise unklar, wo strategische Änderungen vorgenommen werden müssen. An dieser Stelle ist noch relevant, dass nicht nur die Entwicklung, sondern vor allem die Umsetzung der Strategien aktiv gestaltet wird. Im Sinne der adaptiven Strategie gilt es, auch aktuelle Entwicklungen in die Strategie zu implementieren, um auch hierüber die Anpassungsfähigkeit sicherzutellen.
  • …in der Organisation und in den Teams klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zu definieren. Hierbei recht es oft nicht aus, allein unflexible und wenig aussagekräftige „Stellenbeschreibungen“ zu erstellen. Vielmehr geht es um die Unterscheidung von Rollen (im Sinne von Stellen) und den Verantwortungsbereichen (Mandaten). So haben bspw. in einem Team einer stationären Einrichtung alle die gleiche Stellenbeschreibung. Dies führt jedoch dann zu Problemen, wenn (nicht nur) in der Krise selbstbestimmt agiert und Verantwortung übernommen werden muss.
  • …die Art und Weise, wie in der Organisation miteinander umgegangen wird, in den Blick zu nehmen. Die Interaktionen und Kommunikationen haben großen Einfluss auf den Geist, die Atmosphäre, die Kultur, das emotionale Wohlbefinden und die Effektivität der Teams und der Organisation als Ganzes. Und gerade in Krisenzeiten sind dies hoch relevante Aspekte, die das Überleben (oder auch nicht) einer Organisation massiv beeinflussen können. Wie auch in der ISO-Norm angeführt, geht es hier bspw. auch um die Frage, wie und ob Wissen in der Organisation geteilt wird.

Fazit, oder: Wir sind besser als wir denken!

Klar ist, dass in einer Zeit, in der der soziale Sektor vor immer neuen Herausforderungen steht, die Entwicklung organisationaler Resilienz von entscheidender Bedeutung ist. Und es wurde auch deutlich, dass organisationale Resilienz Anpassungen und Entwicklungen auf individueller, auf Team- und auf Organisationsebene erfordert. Und da haben soziale Organisationen sowieso spezifische Herausforderungen. Kurz:

Oh man, wer soll das bitte wann und wie machen?

Ja, das ist richtig. Aber! Aber ich habe oben des Öfteren die hoch diversen, dezentralen Strukturen sozialer Organisationen betont. Ja, auch diese bringen einige Herausforderungen mit. Aber sie bieten auch enorme Möglichkeiten, sofern die Vorteile berücksichtigt werden.

Und die Vorteile liegen in der Diversität. Wenn soziale Systeme wie Ökosysteme betrachtet werden, dann zeigt sich, dass insbesondere Monokulturen hochgradig krisenanfällig sind. Reine Fichtenmonokulturen sterben durch einen kleinen Käfer sowie Geschäftsmodelle, die ausschließlich auf ein Produkt bzw. Angebot setzen, durch eine kleine Gesetzesänderung oder Innovation am Ende sein können.

P.S.: Das Bild zu diesem Beitrag zeigt den Garten meines Vater. Ich finde, es zeigt sehr gut, was Resilienz bedeuten kann (auch wenn hier der Wildwuchs etwas überwiegt 😉


Wie aber steht es um die Resilienz Deiner Organisation, Deines Teams oder Deiner ganz persönlichen Resilienz? Hinterlasse dazu gerne einen Kommentar – hier oder auf den verschiedenen, anderen Kanälen…

Quellen

  • Heller, J. (Hrsg.) (2019). Resilienz für die VUCA-Welt. Heidelberg: Springer.

Warum wir verpflichtende Weiterbildung in der Sozialen Arbeit brauchen

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Kontinuierliche Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist und war schon immer relevant, um neue und sich ständig verändernde Anforderungen zu bewältigen.

Gefordert sind übergreifend Kompetenzen zur Zukunftssicherung der Organisationen und der Gesellschaft. Und spezifisch sind der Weiterentwicklung fachlicher Kompetenzen Kompetenzen für die Gestaltung der digitalen ebenso wie der ökologischen Transformation gefordert.

Diese “Future Skills” (s.u.), wie Innovationskompetenz, Transformationskompetenz oder auch Unsicherheitsbewältigungskompetenz, sind schon jetzt und werden zukünftig unabdingbar. Aus der Herausforderung kontinuierlicher Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels eine Notwendigkeit geworden. 

Mit Blick auf das Angebot und der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit zeigen sich jedoch einige Paradoxien und Herausforderungen. Diese wollen wir hier skizzieren und Ideen zeigen, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann. Am Ende bleiben aber, wie so oft, mehr Fragen als Antworten.


von Prof. Dr. Berthold Dietz und Hendrik Epe


Paradoxien bzgl. der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Noch einmal: Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist notwendig. Es zeigen sich jedoch mindestens drei paradoxe Szenarien, die wir im folgenden näher beschreiben:   

1. Schere zwischen der Relevanz und der Wahrnehmung von Weiterbildung

Branchenübergreifend zeigt sich, dass – obwohl die Zustimmung der Arbeitnehmer:innen wie der Arbeitgeber zur Notwendigkeit “lebensbegleitenden Lernens” enorm hoch ist – die Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten hinter den Weiterbildungsbedarfen zurückbleibt (vgl. bspw. cedefop, 2022). 

Es ist davon auszugehen, dass diese Diskrepanz auch in den Sozialen Berufen existiert. Dies ist gerade mit Blick auf die Qualifikation von Leitungskräften interessant: 

Der Weiterbildungsbedarf nimmt auf höheren Qualifikationsebenen eher zu. So sieht – in der Theorie – der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) bzw. der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) für Leitungskräfte bspw. das Level 7 (Master-Niveau) vor. Ähnlich werden Leitungskompetenzen auch im “Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit” (vgl. Fachbereichstag Soziale Arbeit, 2016) nicht auf Bachelor-, sondern auf Master-Level verortet.

Unsere (nicht verifizierte) These lautet, dass eine Umsetzung und Anerkennung dieser höheren Qualifikationsstufen in der beruflichen Realität nicht (umfassend) berücksichtigt wird. 

So zeigt die Erfahrung in den Sozialen Organisationen, dass die Besetzung von Führungspositionen (bspw. auf Team- oder Abteilungsebene) nicht zwingend an eine Höherqualifizierung gekoppelt ist. Insbesondere in kleineren und mittelgroßen Einrichtungen fehlen darüber hinaus (aus unterschiedlichen Gründen) interne Qualifizierungsprogramme für Führungskräfte. Eine Verpflichtung zur Wahrnehmung von externen Weiterbildungsangeboten (bspw. des Sozialmanagements) findet sich ebenso wenig. 

2. Der Hype-Effekt und das Dilemma der Themenjagd

Weitergehend zeigt sich mit Blick auf die Weiterbildungsangebote rund um die Soziale Arbeit und das Sozialmanagement, dass deren Vielfalt scheinbar grenzenlos ist. 

Dabei fokussieren viele Angebote jedoch über das Bedienen von “Managementmoden”,   verstanden als “breit geteilte Vorstellungen darüber, wie (…) Verbände besser organisiert werden können” (Kühl, 2022), auf die Jagd nach Teilnehmer:innen, statt grundlegende, wissenschaftlich fundierte Angebote zur Entwicklung moderner, aber basaler Kompetenzen bereitzustellen. 

Ein auffälliger Aspekt der aktuellen Weiterbildungslandschaft lässt sich als „Hype-Effekt“ definieren: 

Themen, die für Aufsehen sorgen und als reißerisch gelten, dominieren oft die Diskussion. Weiterbildungsangebote zu “Managementmoden” werden erfolgreich kommuniziert und es scheint, als wären Weiterbildungsanbieter nur auf der Jagd nach den neuesten Trends zu sein, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Während diese Strategie kurzfristig (wirtschaftlich) erfolgreich sein kann, bleiben die oftmals komplexen Grundlagen der Sozialen Arbeit und des Sozialmanagements auf der Strecke. Fundamentale, grundlegende Weiterbildungsthemen geraten in den Hintergrund und werden vernachlässigt.

3. Weiterbildung in der Sozialen Arbeit ist Privatsache

Trotz des Wandels der Arbeitswelt und der Notwendigkeit kontinuierlicher Weiterbildung hält sich mit Blick auf die Sozialwirtschaft – etwas überspitzt formuliert – die traditionelle Ansicht hartnäckig, dass Weiterbildung Privatsache ist. 

Es gibt, und hier bestätigen die Ausnahmen die Regel, kaum systematische Förderung durch Verbände und Organisationen – und dies, obwohl in vielen Arbeitsfeldern Weiterbildungen wie bspw. systemische Beratungskompetenzen explizit vorausgesetzt werden. 

Ein Grund dafür ist, dass “Weiterbildungsaktivitäten in Einrichtungen der Sozialen Arbeit oftmals nur unzureichend in das Managementhandeln von Leitungskräften eingebunden” (Gesmann, 2022, 1f) sind. Daraus resultiert ein Dilemma: 

Obwohl die Arbeitsanforderungen immer komplexer werden, fehlt es oft an Anreizen und formalen Strukturen, um Weiterbildung in den aufgrund des Fachkräftemangels sowieso schon vollen Arbeitsalltag der Fach- und Führungskräfte zu integrieren. 

Gesmann sieht hier die Notwendigkeit der Implementierung eines “systemischen Weiterbildungsmanagements in Organisationen der Sozialen Arbeit” (vgl. 2022). Dieses muss sich explizit “nicht nur an der sich weiterbildenden Fachkraft, sondern zugleich am strukturell gekoppelten sozialen System (i. d. R. dem jeweiligen Team des*der Einzelnen)” (ebd., 164) orientieren mit dem Ziel, “nicht nur (…) einen Transfer I. Ordnung (im Sinne der klassischen Anpassungslogik) zu evozieren, er strebt zudem einen Transfer II. Ordnung an, soll also einen Nährboden schaffen, um individuell erfahrene Irritationen auch zur kontrollierten Destabilisierung vorhandener Kommunikations- und Entscheidungsmuster nutzen zu können (Transfer II. Ordnung)” (ebd.). 

Ein entsprechendes Weiterbildungsmanagement hängt jedoch wiederum an den beiden zentralen Ressourcen Zeit und Geld – im Bilden von Anreizstrukturen (Fachkräftebindung) genauso wie in der Mitarbeitenden- und Organisationsentwicklung. 

Beides ist unserer Meinung nach extrem unterschätzt. Vielmehr besteht der Verdacht (der mangels belastbarer Umfragedaten ein Verdacht bleiben muss, wenn auch “erhärtet”), dass Personalverantwortliche trotz des Fachkräftemangels keine Weiterqualifizierung finanzieren wollen, die danach durch Weggang der Fachkraft anderen Organisationen zugute kommen könnte. 

Und vielleicht wiegt sogar der Aspekt noch höher, dass der Transfer II. Ordnung – die Destabilisierung des bekannten Systems – Ängste hervorruft, die durch die Versagung von Weiterbildung vermieden werden.  

Entweder ist der Personaldruck noch nicht hoch genug und wird noch durch Arbeitsverdichtung kompensiert und an die Mitarbeitenden weitergegeben (was wiederum der Wahrnehmung von Weiterbildung entgegen wirkt), oder aber der Wert von individueller und gleichzeitig organisational gesteuerter Weiterbildung wird unterschätzt. Die Fantasie zur Mitarbeitendenentwicklung reicht noch nicht aus, um sich eine Investition in das eigene Personal mit allen Kosten, aber eben auch Mehrwerten und Gewinnen für die Organisation vorstellen zu können – auch wenn die Mehrwerte und Gewinne nicht kurz-, sondern eher mittel- und langfristig sichtbar werden. 

Den Aspekt der “Weiterbildung als Privatsache” abschließend ist der Blick auf die Möglichkeit, gesetzliche Ansprüche auf Weiterbildung geltend zu machen (bspw. Bildungsurlaub), interessant: 

Eine nicht verifizierte Annahme dazu könnte lauten, dass die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Rechte insbesondere in der Sozialen Arbeit weit unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Branchenübergreifend ist – trotz schlecht vergleichbarer Datenlage – etwa bei Eurostat bekannt, dass Deutschland im Vergleich eher unterdurchschnittlich in Bildung investiert (Quelle: Eurostat: Online-Datenbank: Öffentliche Ausgaben für Bildung in % des BIP (03/2019), Öffentliche Ausgaben für Bildung in jeweiligen Preisen (09/2018); zitiert nach https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/europa/135809/oeffentliche-bildungsausgaben/). 

Man könnte, etwas überspitzt, formulieren, dass das Land der Dichter und Denker in Wahrheit eher das “Land der schlichten Gelenkten” ist, die sich nicht aktiv, selbstbestimmt und autonom um ihre Entwicklung bemühen. Mit den Worten von Konstantin Sakkas formuliert:

“Denn wir waren nie ein Volk von Dichtern und Denkern, sondern höchstens ein Volk mit überdurchschnittlich vielen Dichtern und Denkern – die sich in Deutschland allerdings (…) nur selten richtig wohl fühlten.” 

(Sakkas 2010)

Und Sakkas ist sicherlich nicht der Erste und nicht der Einzige, der Deutschland Bildungsfeindlichkeit attestiert, womit nicht nur das Fehlen von Kita-Plätzen und der Zustand von allgemeinbildenden Schulen gemeint ist, sondern auch das Bild von Bildung und Lernen und damit auch das Bild von Weiterbildung im Erwachsenenalter. Hierbei spielt wahrscheinlich auch die Unsicherheit über die Durchsetzbarkeit und die fehlende Information und Sensibilisierung von Arbeitnehmenden ebenso wie der Beschäftigenden eine Rolle.

Weiterbildungsverhalten und passgenaue Angebote?

Die Forschung unterscheidet zwischen allgemeiner Erwachsenenbildung (z. B. der klassische VHS-Kurs) und berufsbedingter, betrieblicher Fort- und Weiterbildung (entwickelt und angeboten durch Arbeitgeber oder Verband). Beide Weiterbildungsbedarfe sind nicht steuerbar und sind hier nicht von Interesse, weil sie entweder stark auf persönliche oder betriebliche Belange zugeschnitten sind. 

Was uns insgesamt in der Sozialwirtschaft jedoch interessieren sollte, in Zeiten chronischer Personalprobleme (nicht nur) in Kitas und Pflegeheimen sowie des sich vollziehenden Generationenwechsels durch den demografischen Austritt der geburtenstarken Boomer aus der Arbeitswelt – Antworten auf die schlichte Frage, wie und welche sozialen Angebote aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln sind. 

Seitens der Angebote betrifft es nicht die Orchideenfotografie, die von Bildungsskeptischen gerne als ”Argument” gegen eine flächendeckende, allgemeine Förderung von Fort- und Weiterbildungen angeführt wird. 

Die Leute sollen ihre Arbeit machen, in Zeiten der Bildung fehlen sie in den Teams und kommen nur auf komische Gedanken, die betrieblich für Unruhe sorgen (siehe Transfer II. Ordnung). Machen wir uns nichts vor: Hand hoch, wer nicht auch damit rechnet, dass solche Steinzeit-Einstellungsmuster noch existieren.

Wer die Hand unten behält, macht entweder positivere Erfahrungen mit Personalverantwortlichen und/oder ist mit qualifizierteren Bedenken konfrontiert: “Wie vereinbare ich Arbeitszeit, Familienzeit und Bildungszeit?” Mache ich diese spezielle Fortbildung zu Konfliktmanagement oder zu systemischer Beratung, dann bin ich u. U. in einer erheblich leichteren Verhandlungsposition gegenüber meinen Vorgesetzten. 

Schwierig wird es in der Kategorie “individuelle, berufsbezogene Weiterbildung”, also dem Weiterbildungssegment, welches nicht unmittelbar der aktuellen Tätigkeit, sondern der persönlichen Entwicklung im gewählten Beruf in einem breiteren Sinne entspricht. 

Die Weiterbildungsbeteiligung in diesem Segment ist zugunsten der direkten betrieblichen Fortbildung zwischen 2012 und 2020 deutlich zurückgegangen, anteilig von 13% zu nur noch 8% an allen Weiterbildungsaktivitäten (BMBF 2023:22). Sicherlich kann in der Folge ein Pandemie-Effekt nicht geleugnet werden, der angesichts allgemeiner Verunsicherung alles Zukunftsweisende einer strengen Effizienzbewertung unterzog, aber der Zug in Richtung Vereinbarkeit, Passgenauigkeit und unmittelbarer Verwertbarkeit fuhr schon viel früher ab.

Analysiert man das Weiterbildungsverhalten und fragt nach den Gründen der Nichtteilnahme bei Weiterbildungswilligen, so stehen zwei Hinderungsgründe im Vordergrund: Finanzierung und familiäre Gründe.

Geht man hier weiter in die Tiefe, so zeigt sich ein gravierender Geschlechterunterschied. Während nur 22% der sich nicht weiterbildenden Männer als Hinderungsgrund familiäre Gründe geltend machen, geben diese als Haupthinderungsgrund über 45 % der Frauen an (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271573; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00; Daten für 2016). 

Bei den Kosten als Haupthinderungsgrund ist das Geschlechterverhältnis 27% (m) zu 37% (w) (Quelle: Eurostat, Online Datencode: TRNG_AES_176__custom_7271935; letzte Aktualisierung: 08/06/2023 23:00).

Kurz und vereinfachend gesagt spielen also auch hier Betreuungssituation wie auch Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten bzw. der Gender Pay Gap eine nicht unwesentliche Rolle. Was beides für das Weiterbildungsverhalten mit Blick auf mehrmonatige Programme mit institutionellem Abschluss bedeutet, liegt auf der Hand, wenn man weiß, wie hoch der Anteil von Frauen in sozialen, erzieherischen und pflegerischen Berufen ist.

Handlungsoptionen zur Steigerung der Wahrnehmung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit

Das Darlegen von (teils offensichtlichen) Herausforderungen allein ist selten ausreichend für gelingende Veränderung. Vielmehr braucht es das Aufzeigen von Möglichkeiten, wie den Herausforderungen begegnet werden kann. Einige dieser Möglichkeiten bezogen auf die Weiterbildung in der Sozialen Arbeit werden im Folgenden dargelegt.

Die Vielfalt der Angebote und ihre Grenzen

Trotz der Vielfalt an Weiterbildungsangeboten stellt sich die Frage, ob diese Vielfalt ausreicht, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden?

Braucht es in einer Zeit, in der sich die Anforderungen rasch ändern, nicht vielmehr ganz neue Herangehensweisen an Weiterbildung, wenn klassische Weiterbildungsmodelle an ihre Grenzen stoßen?

Zum einen ist gegen die Angebotsvielfalt grundsätzlich wenig einzuwenden. Diese “belebt das Geschäft” und fördert das Zustandekommen von innovativen Ansätzen und Inhalten. Hinzu kommt, dass sich die Weiterbildungsnotwendigkeiten aufgrund der eingangs geschilderten gesellschaftlichen und organisationalen Wandlungsprozesse ebenfalls kontinuierlich wandeln und entwickeln. 

Zum anderen ist das oftmals klassisch strukturierte “zur Verfügung stellen” der Angebote zu hinterfragen. Anstatt lang andauernder, mit hohen Kosten und Aufwand verbundener „Komplettpakete“ könnten von Seiten der Anbieter der Weiterbildungen innovative Ansätze wie „Weiterbildungs-Primes“ in Betracht gezogen werden:

Ähnlich wie ein Abonnement oder ein exklusives Angebot könnten Weiterbildungs-Primes auf die Bedürfnisse von Fachkräften zugeschnitten und sofort verfügbar sein.

So liegt, jenseits der gehypten Angebote, die es in einem Weiterbildungsmarkt immer geben wird, das Hauptaugenmerk auf den Kriterien Transparenz, Dauer und Kosten. Weiterbildungswillige wie Beschäftigende wollen wissen, was sie vom Bildungsinvestment haben. Dies gilt umso mehr für Weiterbildungsangebote, die mehr der längerfristigen, individuellen Entwicklung als einer kurzfristigen, unmittelbaren Tätigkeitsverwertung entsprechen. Programme, die von mehrmonatiger Dauer sind und auf Jahre konzipiert und akkreditiert werden, sind nur bedingt in der Lage, darauf zu reagieren.

Wir müssen in kleineren Häppchen – den Weiterbildungs-Primes – denken, auch um damit den Bildungsteilnehmenden die Möglichkeit zu geben, auf ihre Weiterbildung gestalterisch Einfluss zu nehmen und sich ihr individuelles Bildungspaket zusammenzustellen.

Bildung muss wie andere meritorische Güter (wie Information, Gesundheitsversorgung oder Kultur) verfügbar sein, wie und wann ich sie brauche, bzw. wie sie in mein Leben passt. Das klingt nach einem konsumistischen Credo, ist aber in erster Linie ein Anspruch, mehr und positivere Bildungserfahrungen zu ermöglichen. Diese braucht es zwingend, um „lebenslang“ weiterzulernen und weiterzukommen.

New Social Work braucht New Social Learning braucht Organisationsentwicklung

„New Learning“ (vgl. näher dazu Foelsing und Schmitz, 2021) lässt sich als Konzept definieren, das auch in der Sozialen Arbeit aus zwei Perspektiven eine wichtige Rolle spielen sollte. 

New Learning lässt sich a) individuell in der Frage zusammenfassen, wie es gelingen kann, selbstgesteuerte und autonome Ansätze des Lernens und zur Gestaltung der eigenen Lernumgebung und -inhalte zu schaffen. Mehr zum Thema New Learning kannst Du auch hier nachlesen.

Gleichzeitig stellt New Learning die Frage, wie es b) den Organisationen der Sozialen Arbeit gelingen kann, “Lernökosysteme” zu schaffen, die weit über klassische Lernsettings wie bspw. das “Wissensmanagement” hinausgehen. 

New Learning greift die Ideen des oben skizzierten “systemischen Weiterbildungsmanagements” auf und erfordert aus beiden Perspektiven – individuell wie organisational – ein Umdenken: 

Zum einen sind die Beschäftigten der Sozialen Arbeit gefordert, sich mit Lernen, Bildung und damit auch der Weiterbildung zu befassen. Es reicht heute und in Zukunft nicht mehr aus, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren und darauf zu hoffen, dass damit dann auch “Schluss mit Lernen” ist. Vielmehr gilt es, ein (neues) Bewusstsein lebensbegleitenden Lernens zu schaffen. Dieses muss über die alle paar Jahre stattfindende Wahrnehmung klassischer, von der Organisation verordneter Weiterbildungsangebote hinausgehen. Es geht darum, eine Haltung zu selbstbestimmtem Lernen und Weiterbildung zu schaffen, die es ermöglicht, selbstbestimmt und autonom eigene Lernoptionen zu finden, zu nutzen und auch zu gestalten. Diese Perspektive könnte die Vermutung nahelegen, dass Weiterbildung damit wieder “ins Private” abgeschoben wird. Das ist aber nicht zielführend.

Entsprechend sind zum anderen die Organisationen der Sozialen Arbeit gefordert, Lernen, Bildung und damit auch Weiterbildung zu einem der heute und in Zukunft wichtig(st)en strategischen Thema zu machen. Organisationen der Sozialen Arbeit sind gefordert, ihren Mitarbeitenden ein Lernökosystem bereitzustellen, das selbstgesteuertes, autonomes Lernen nicht nur ermöglicht, sondern explizit fördert. 

Diese Lernökosysteme gehen jedoch über klassische Maßnahmen – wie bspw. dem Angebot eines Weiterbildungskatalogs – hinaus. Lernökosysteme umfassen bewusst gestaltete, zum Lernen einladende Räumlichkeiten, Möglichkeiten der Wahrnehmung von internen wie externen und digitalen wie analogen Angeboten, das Nachhalten der Wirksamkeit der Lernaktivitäten der Mitarbeitenden ebenso wie eine veränderte Einstellung zur Weiterbildung der Führungskräfte (und vieles mehr, vgl. ebd., 309ff). 

Lernökosysteme betreffen damit das Organisationsdesign sozialer Organisationen, von den Kommunikationswegen über die Gestaltung der Regeln und Prozesse bis hin zur Frage der Einstellung von Personen.

Über die Ausrichtung der Formalstruktur der Organisationen auf die Ermöglichung von Lernen besteht die Hoffnung, perspektivisch eine oftmals gewünschte „Lernkultur“ nicht nur auszurufen, sondern tatsächlich zu ermöglichen.

Die Herausforderung des Ungewissen – oder: Wie lange können wir uns die Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit noch leisten?

Schließlich stellt sich die Frage nach Ausrichtung und Qualität existierender Weiterbildungsangebote. 

Oft basieren viele Angebote auf gesicherten Wissens- und Kompetenzbeschreibungen. Alle Spezialisierungen und unmittelbaren Tätigkeitsverwertungen sind Schritte in eine fachliche Zementierung, in der alle ihren Arbeitsplatz in gut funktionierenden Prozessen haben. 

Die Realität jedoch ist längst eine andere: 

Es herrscht Mangel, Arbeiten am Limit, permanente Improvisation zum Bewältigen von Unterbesetzungen und zunehmender Ausfälle. Wir befinden uns zudem in Transformationsprozessen größerer und größter Art. 

Es sind nicht nur die Bedarfe, mit denen die Strukturen einer “industriellen” Sozialwirtschaft nicht mehr Schritt hält. Es sind die Strukturen der Organisationen wie die Strukturen des Funktionssystems Sozialwirtschaft selber, die sich nicht als zukunftstauglich erweisen. 

In einer sich schnell entwickelnden Welt ist das Lernen am Ungewissen, das Auseinandersetzen mit “Noch-nicht-zu-Ende-Gedachtem”, von entscheidender Bedeutung. Die Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen und kreativ zu denken, wird zunehmend wichtiger. 

An dieser Stelle ist wiederum auf die Implementierung der “Future Skills” zu verweisen und zu fragen, wie es gelingen kann, einerseits wissenschaftlich fundierte Angebote bereitzustellen, die zukunftsfähiges Lernen ermöglichen und andererseits notwendige Entwicklungen der Weiterbildungsangebote aufgrund von einem “Festhalten am Alten” nicht zu verschlafen? 

Insbesondere im hochschulischen Kontext – beim Angebot bspw. von Master-Studiengängen – regen wir an, die trotz der Regulierungen durch bspw. die Akkreditierung vorhandenen Freiheiten und Möglichkeiten zu nutzen und das “noch nicht zu Ende gedachte” in die Entwicklung und Umsetzung der Weiterbildungsangebote aufzunehmen. 

Über dieses Vorgehen kann ganz praktisch und hautnah “agiles Arbeiten” erlebt werden: Über Annahmen und Hypothesen lassen sich auch in bestehenden Weiterbildungsangeboten Experimente machen und neue Wege gehen. Diese Experimente sind – das ist relevant – regelmäßig zu reflektieren, um aus den Erfahrungen zu lernen und fundierte Weiterentwicklung zu ermöglichen. 

Fazit: Den Spagat meistern

“Nachtigall, ick hör Dir trapsen!” 

Da schreiben zwei Menschen, die selbst in die Entwicklung und Durchführung von Weiterbildung in der Sozialen Arbeit aktiv eingebunden sind, über das Scheitern des Systems. Sie plädieren für die Notwendigkeit von Weiterbildung und für die Implementierung von “systemischem Weiterbildungsmanagement”. Sie kritisieren die Vielfalt an Hype-Angeboten und bieten gleichzeitig selbst “Schauseiten-Weiterbildungen” zu abgefahrenen Themen wie “New Social Work”, “OKR in der Sozialwirtschaft” oder “Agilem Arbeiten in Sozialen Organisationen” an (ich, Hendrik ;-)) bzw. sind als Leiter eines berufsbegleitenden Masterstudienganges ein klassischer Vertreter klassischer tertiärer institutioneller Angebote, die man sich zeitlich und finanziell erst einmal leisten können muss (ich, Berthold ;-)). 

Da ist doch ein Haken, oder? Das kann doch nicht ganz uneigennützig sein? 

Ja, stimmt. Der wesentliche Haken, den wir sehen, ist, dass es deutlich mehr Fragen als eindeutige Antworten gibt, was sich auch im vorliegenden Beitrag niederschlägt. 

Ein Aspekt liegt uns aber am Herzen, der sich in der folgenden Frage manifestiert: 

“Wie kann es gelingen, die für die Zukunft einer lebenswerten Gesellschaft hoch relevante Soziale Arbeit in all ihren Facetten so zu unterstützen, dass sie ihrem eigenen Anspruch heute und in Zukunft gerecht werden kann?”

Dieser Anspruch zeigt sich in der internationalen Definition Sozialer Arbeit: 

“Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung  von Menschen.” 

(IFSW 2014)

Der Anspruch ist hochgradig komplex und die skizzierten Paradoxien in der Weiterbildungslandschaft spiegeln die Komplexität der Sozialen Arbeit und übergreifend der modernen Arbeitswelt wider. 

Es gilt, die Balance zwischen aktuellen Trends und fundierter Bildung, zwischen individueller Verantwortung und systematischer Unterstützung zu finden. Nur so können Fachkräfte in der Lage sein, den Herausforderungen der Zukunft souverän zu begegnen und ihre Fähigkeiten kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Um diesen komplexen Herausforderungen auch zukünftig begegnen zu können, geben wir abschließend noch eine Frage mit: 

Muss, vor dem geschilderten Hintergrund, Weiterbildung in der Sozialen Arbeit verpflichtend sein? 

Wir denken, dass einiges dafür spricht. 


Wie sind Deine Eindrücke bzgl. der Weiterbildung in der Sozialen Arbeit? Schreib uns diese gerne hier in die Kommentare oder per Mail!


Literatur: 

Drei Thesen für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit

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Spätestens seit der Pandemie sollte klar sein, dass diese „Digitalisierung“ hilfreich, vor allem aber nicht mehr wegzudenken ist. Videokonferenzen, digitale Kommunikation, Vernetzung, effiziente Prozesse mit daraus resultierender Arbeitserleichterung und vieles mehr sprechen für digitale Entwicklungen auch in der Sozialwirtschaft bzw. spezifischer: in Organisationen der Sozialen Arbeit. Und trotzdem geht es mit der Digitalisierung in Organisationen der Sozialwirtschaft nicht (wirklich) voran. Warum ist das so? Was braucht es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit? Darauf will ich hier eingehen.

Aber muss dieser Beitrag in Zeiten von AI, in Zeiten von augumented intelligence, wirklich sein? Haben nicht wirklich langsam alle verstanden, dass es keinen Weg zurück, an digitalen Entwicklungen vorbei, gibt? Doch, schon, aber trotzdem.

So basiert dieser Beitrag darauf, dass ich in vielen Veröffentlichungen, bspw. in den sozialen Medien, immer wieder lese, dass „Digitalisierung (in) der Sozialen Arbeit helfen kann“, aktuelle und zukünftige Herausforderungen Sozialer Arbeit zu lösen.

Das ist mir deutlich zu undifferenziert, da ich in den Organisationen, Einrichtungen und Teams, in denen ich unterwegs sein darf, an vielen Stellen eine zunehmende „Digitalisierungsskepsis“ wahrnehme.

Echte, tiefgreifende Verbesserungen der eigenen Arbeit durch Digitalsierung haben sich – so die Wahrnehmung vieler Fachkräfte – häufig nicht ergeben. Das Versprechen, mehr Zeit für die Klient:innen zu haben, für die eigentliche Soziale Arbeit, für die Arbeit mit den Menschen, hat sich häufig nicht eingelöst.

Und leider viel zu hautnah musste ich in den letzten Wochen ambulante Pflegekräfte eines modernen Verbands erleben, die sehr bewusst Stift und Papier zur Dokumentation verwenden. Auf die Frage „Warum denn nicht digital?“ kam die sehr nachvollziehbare Rückmeldung:

„Stift und Papier funktioniert immer, schnell und sicher, auch bei sauerländischen Funklöchern“.

Aber:

Was ist Digitalisierung eigentlich?

Boah, echt jetzt? Schon wieder diese Grundsatzdebatte? Ganz ehrlich Hendrik, kauf dir’n Buch.

Zum Beispiel:

  • Beranek, Angelika; Hill, Burkhard & Sagebiel, Juliane Beate (2019): Digitalisierung und Soziale Arbeit – ein Diskursüberblick. In: Soziale Passagen 11(2), 225-242.
  • Hagemann, Tim (Hrsg.): Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens im Zeitalter von Digitalisierung und technischer Assistenz. Veröffentlichung zum zehnjährigen Bestehen der FH der Diakonie. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2018, Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Grundlagen – Strategien – Praxis. Baden-Baden: Nomos.
  • Kreidenweis, H. (2020): Sozialinformatik. Digitaler Wandel und IT-Einsatz in sozialen Organisationen, 3., überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos.
  • Kutscher, N. et. Al. (2020, Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Weinheim: Beltz Juventa.
  • Pölzl, A., Wächter, B. (2019): Digitale (R)Evolution in Sozialen Unternehmen. Praxis-Kompass für Sozialmanagement und Soziale Arbeit. Regensburg: Walhalla.
  • Wunder, M. (2021, Hrsg.): Digitalisierung und Soziale Arbeit. Transformationen und Herausforderungen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Das ist nur eine Auswahl der vielfältigen Veröffentlichungen rund um das Thema „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ der letzten Jahre.

Und ja, in den Veröffentlichungen stehen wichtige, spannende, richtige Aspekte rund um das Thema. Es lohnt sich, sich auf Basis von Literatur mit dem Thema zu befassen.
Oder anders, deutlich schöner, ausgedrückt:

„Nichts verscheuchte böse Träume schneller als das Rascheln von bedrucktem Papier.“ (Cornelia Funke)

Unklar ist aber immer noch, was denn Digitalisierung jetzt genau ist, oder hast Du Dich erstmal hingesetzt und die Bücher gewälzt? Nein? Ach…

Und damit kommen wir schon zur These 1, was es für gelingende Digitalisierung in Organisationen der Sozialen Arbeit braucht:

These 1: Gelingende Digitalisierung braucht klare Erwartungen

Was ist New Work? Was ist Innovation? Jede:r hat zu diesen Begriffen Bilder im Kopf, jede:r kann etwas zu dem Thema sagen und kann – meinungsstark – seine eigene Position vertreten. Und bei Digitalisierung ist es genauso:

Jede:r hat eine Vorstellung dessen im Kopf, was „Digitalisierung“ bedeutet.

Das ist super, wenn man den Party-Smalltalk am Laufen halten will:

„Und, wie steht es um die Digitalisierung in Eurer Einrichtung?“

Da flutscht das Gespräch!

Und aller Wahrscheinlichkeit nach versteht man sich auch gut, da die Diskussion von A wie Algorithmen bis Z wie Zukunft mäandern kann, ohne an der ein oder anderen Stelle über die Ufer treten zu müssen.

In Workshops zur Entwicklung von Digitalstrategien nutze ich zu Beginn gerne die Übung, dass jede:r einmal „sein“ Digitalisierungsalphabet aufschreibt: A wie Alphabet, B wie Bits und Bytes, C wie Computer, D wie Datenverlust… Dabei wird deutlich, dass jede:r sehr eigene und häufig sehr andere Erwartungen an das hat, was Digitalisierung im Allgemeinen und im Spezifischen bezogen auf die eigene Organisation ist bzw. bringen soll.

Wenn jedoch die einen die Hoffnung von Digitalisierungsbemühungen auf die Vereinfachung bestehender Prozesse (bspw. zur Pflegedokumentation) legen, sich die anderen endlich mal für die Employer Branding Kampagne in Social Media vertreten sehen wollen und die Dritten neue, digitalisierte Geschäftsmodelle oder die sinnvolle Nutzung sog. „künstlicher Intelligenz“ erhoffen, wird es schwierig, ein gemeinsames Verständnis, geschweige denn eine gemeinsame, sinnvolle, umsetzbare Strategie zu entwickeln.

Hinzu kommt, dass die verschiedenen Erwartungen an „die Digitalisierung“ nur zu enttäuschen sind, sofern diese nicht vorab geklärt werden.

Was kann getan werden?

Entsprechend ist dies der erste Schritt: Es sind die Erwartungen an die Digitalisierungsbemühungen zu klären. Darüber kann partizipativ ein gemeinsames Verständnis dessen geschaffen werden, was durch „die Digitalisierung“ ganz spezifisch in der eigenen Organisationen erreicht werden soll und kann.

Dieses „kann“ ist relevant, denn: Möglich ist vieles, realistisch umsetzbar deutlich weniger und funktional für die Organisation sind vielleicht nur wenige, kleine Schritte, die aber echte Veränderung im Kleinen bewirken.

Die kleinen, häufig nicht für alle Mitglieder der Organisation gleichermaßen sichtbaren Fortschritte sind immer wieder zu kommunizieren, damit nicht der Eindruck entsteht, „viel Lärm um nichts“ zu machen.

These 2: Gelingende Digitalisierung braucht ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung durch Digitalisierung

Digitalisierung formalisiert – immer! Klingt komisch, ist aber recht einfach erklärt:

Die Einführung eines Messengers zur Kommunikation mit den Klient:innen kann nicht der Entscheidung einzelner Organisationsmitglieder und ebensowenig der Entscheidung einzelner Teams oder Organisationseinheiten überlassen werden. Genauso kann nicht jedes Team, bspw. in der ambulanten Pflege, individuell entscheiden, ob sie Programm X oder Y zur digitalen Dokumentation nutzen oder ob sie doch lieber weiterhin analog, mit Stift und Papier, dokumentieren.

Digitalisierung erfordert formale Entscheidungen, die Gültigkeit für die Gesamtorganisation besitzen.

Richtig spannend wird es beim Dokumentenmanagement: Sofern die Organisation einheitliche, formal vorgegebene Prozesse der Pflege, Bearbeitung, Ablage usw. von Dokumenten anstrebt, sind alle (!) Mitarbeiter:innen gefordert, die Vorgaben einzuhalten.

Das ist mehr als nervig, wenn es vorab eine „Kultur der dominierenden Informalität“ gab und jede:r irgendwelche Dokumente irgendwie ändern und irgendwo „ablegen“ konnte.

Zur Erläuterung: Informalität lässt sich als das „Netzwerk bewährter Trampelpfade, die in Organisationen immer wieder beschritten werden“ (Kühl, 2010) definieren.

Eine Kultur der dominierenden Informalität bedeutet entsprechend, dass die Einhaltung formaler Vorgaben als weniger wichtig erachtet wird als das Netzwerk der bewährten Trampelpfade bzw. die erwarteten, spontanen, individuellen, nicht formal geregelten und damit eben informellen Entscheidungen von Individuen und Teams.

Meine These ist, dass eine Kultur der dominierende Informalität in sozialen Organisationen vorherrschend ist und diese Kultur Veränderungsbemühungen erschwert.

Überspitzt formuliert wird erwartet, dass Mitarbeiter:innen und Teams spontan, aus Erfahrung und Intuition, basierend auf den eigenen Vorlieben und „gefühlten Notwendigkeiten“, anstatt basierend auf Vorgaben der Organisationen, festgelegten Prozesse oder gar „Ansagen von oben“ zu agieren.

Um nur ein Beispiel zu nennen, zeigt sich die dominierende Informalität in der verhältnismäßig geringen Bedeutung eines standardisierten Qualitätsmanagements in sozialen Organisationen. Ohne hier in die Tiefe zu gehen, weist bspw. Grunwald darauf hin, dass Vorstellungen eines rein standardisierten Qualitätsmanagements dazu führen, dass QM als die notwendigen informellen Handlungsspielräume beschneidend erlebt wird und die Befürchtung besteht, dass Strategien und Verfahren „zu sinnentleerten Qualitätsmanagement-Routinen werden, womit die potentiellen Chancen einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Qualitätsmanagement und seiner möglichen Bedeutung für die eigene Organisation verspielt werden“ (2018, 618).

Meine These der „dominierenden Informalität sozialer Organisationen“ findest Du tiefer ausgearbeitet unter dem Link.

Aber:

Die Informalität (im Gegensatz zur Formalität) sozialer Organisationen muss nicht immer schlecht sein. In vielen Fällen ist informelles Handeln hoch funktional, insbesondere für soziale Organisationen:

Die Komplexität sozialer Arbeit erfordert spontane Entscheidungen, ein hohes Maß an intrinsischer Motivation, kreatives und individuelles, auf Beziehung setzendes Vorgehen. Entsprechend sinnvoll sind „agile Organisationsdesigns“ oder die Entwicklung selbstbestimmt agierender Teams in und für soziale Organisationen.

Aber eine Kultur, in der die Erwartung des Treffens individueller Entscheidungen vor der Erwartung des Einhaltens von allgemeingültigen, organisationalen Regeln steht, passt eben nicht zur immer formalisierenden Digitalisierung.

Was kann getan werden?

Zunächst einmal ist relevant, Informalität als existente Rahmenbedingung in sozialen Organisationen zu akzeptieren. Ganz allgemein formuliert kann nicht „alles“, jeder Handlungsschritt in Organisationen formalisiert werden.

Und spezifisch in der sozialen Arbeit ist der Versuch, dieses zu tun, an vielen Stellen dysfunktional. Man muss sich nur einmal den „Dienst nach Vorschrift“ in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung vorstellen, in der es nur wenige Vorschriften (für die Mitarbeitenden) geben kann.

Ebenfalls notwendig ist es, Digitalisierungsbemühungen aus der Brille der mit der Digitalisierung zwangsläufig einhergehenden Formalisierung zu betrachten. Es können nicht alle Mitarbeiter:innen mitentscheiden, welche Kommunikationsplattform verwendet wird. Ebenso kann, bspw. bei digitaler Dokumentation nicht mehr individuell entschieden werden, wer was wie dokumentiert. Eingabemasken sind vorgegeben und auszufüllen, ob man will oder nicht.

Über diese beiden Vorüberlegungen der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsweise sollten die Mitarbeiter:innen informiert werden. Dadurch kann grundlegend ein zumindest besseres Verständnis geschaffen werden, was Digitalisierung sozialer Organisationen im Allgemeinen und im Spezifischen für die eigene Organisation bedeutet und welche Implikationen für die eigene Arbeit mit Digitalisierung einhergehen.

Information allein ist jedoch nicht ausreichend. Es bedarf basierend auf der Information dann der gemeinsamen Auseinandersetzung in der Organisation über die Auswirkungen. Es wird Menschen in der Organisation geben, die die Entwicklung begrüßen, Menschen, die die Entwicklung hinnehmen und Menschen, die sehr kritisch auf die Digitalisierungsbemühungen schauen.

Und nein, ich plädiere nicht dafür, „alle Menschen mitzunehmen“. Das wird nicht gelingen. Aber das Wahrnehmen auch der kritischen Stimmen in der Organisation ist wichtig, um gute Wege sinnvoller Digitalisierung zu beschreiten.

These 3: Gelingende Digitalisierung braucht unternehmerische Kompetenz

Nein, jetzt erfolgt kein Bashing der „ach so innovationsfeindlichen Sozialwirtschaft“ und ebenso kein Verweis auf die Unbeweglichkeit der „großen Tanker“. Das ist nämlich nicht so: Sozialwirtschaft ist und war schon immer hochgradig innovativ. Und unternehmerisch, wenn unternehmerisches Handeln verstanden wird als „mit wenigen Mitteln Großes zu leisten“.

Insbesondere sehe ich unternehmerische Kompetenzen bei den Führungskräften, Vorständen, Geschäftsführungen der Organisationen.

Ja, es mag manche geben, die immer noch an der „guten alten Zeit“ festhängen und die Asche anbeten, anstatt das Feuer weiterzugeben. Aber die Menschen, mit denen ich arbeiten darf, denken nach vorne, wollen etwas bewirken, Dinge im Sinne der ihnen anvertrauten Menschen voranbringen, Neues gestalten. Und das in hochgradig dynamischen, komplexen Umwelten unter den Rahmenbedingungen politischer Begrenztheiten und (zunehmend) bürokratisch agierender Kostenträger.

Ich vermisse hingegen unternehmerische Kompetenzen bei den Mitarbeiter:innen an der Basis.

Aber was genau verstehe ich unter „unternehmerischen Kompetenzen“, was haben diese mit stockenden Digitalisierungsbemühungen zu tun und vor allem: Warum sollten Mitarbeiter:innen an der Basis diese Kompetenzen nicht haben?

Unternehmerische Kompetenzen beziehen sich nicht nur auf die Fähigkeiten einer Person in Bezug auf „geschäftliche“ Aktivitäten, sondern ganz grundlegend auf Fähigkeiten, wie sie „auf die Welt“ schaut und mit dieser interagiert.

Im Gegensatz zu einer reaktiven Defizitorientierung geht es um die Entwicklung von Fähigkeiten, Chancen zu erkennen, kalkulierbare Risiken einzugehen, Innovationen voranzutreiben und Verantwortung zu übernehmen, um auch in Unsicherheit erfolgreich und „proaktiv“ agieren zu können.

Der Blick beispielsweise auf die Ausführungen zu Future Skills von Ehlers (2020) und im Spezifischen auf die Gruppe der „Organisationsbezogene Future Skills“ (Kompetenzen, die sich auf den Umgang mit der sozialen, organisationalen und institutionellen Umwelt beziehen) zeigt für mich das, was unter „unternehmerischen Kompetenzen“ gut gefasst werden kann. Ehlers beschreibt hier Fähigkeiten wie Sinnstiftung und Wertebezogenheit, die Fähigkeit, Zukünfte gestaltend mitzubestimmen, mit anderen zusammenzuarbeiten und zu kooperieren und in besonderer Weise kommunikationsfähig, kritik- und konsensfähig zu sein. So ist – als nur ein Beispiel – Zukunftskompetenz „die Fähigkeit mit Mut zum Neuen, Veränderungsbereitschaft und Vorwärtsgewandtheit die derzeit gegebenen Situationen in andere, neue und bisher nicht bekannte Zukunftsvorstellungen weiterzuentwickeln und diese gestalterisch anzugehen“ (ebd., 94ff).

Unternehmerische Kompetenzen beinhalten Kompetenzen wie Innovations-, Führungs-, Kollaborations- und Kommunikationskompetenz. Aber auch Fähigkeiten wie Finanzwissen, Risikobereitschaft und Durchhaltevermögen lassen sich unter die „unternehmerischen Kompetenzen“ fassen.

Ich will hier nicht zu sehr in die Tiefe gehen, empfehle aber eine Auseinandersetzung mit den Future Skills.

Warum aber braucht es die hier angerissenen Kompetenzen für erfolgreiche Digitalisierung?

Auch dies ist eine große Frage, die sehr kurz beantwortet werden kann: Das sinnvollste Vorgehen zur Gestaltung einer dynamischen und komplexen Welt (egal, ob auf individueller Ebene, auf Ebene von Teams und Organisationen oder auf Ebene der Gesellschaft und der Welt als Ganzes) besteht im Experimentieren und Lernen. Nur durch das Ausprobieren des Neuen und das Lernen aus den gemachten Erfahrungen ist es möglich, sich Schritt für Schritt in die erwünschte Richtung, bspw. hin zur „digitalen Vision“ der eigenen Organisation, vorzutasten. Dieses aus dem agilen Management bekannte, „iterative Vorgehen“ wurde inzwischen an den verschiedensten Stellen ausführlich beschrieben.

Und dieses iterative Vorgehen findet sich auch im Denken und Handeln erfolgreicher Unternehmer:innen. Wiederum ohne zu tief einzusteigen findet sich unter dem Vorgehensweise „Effectuation“ eine anwendbare Logik, wie Unternehmer:innen „ins Handeln kommen“ und gleichzeitig Risiken minimieren, Partnerschaften eingehen und Zufälle nutzen.

Die unternehmerische Logik „Effectuation“ verbindet die unternehmerischen Kompetenzen mit den Notwendigkeiten des iterativen Vorgehens zur Gestaltung der Digitalisierung.

Aber warum vermisse ich diese Herangehensweise bei den Mitarbeiter:innen an der Basis sozialer Organisationen?

Dazu ist vorab zu konstatieren, dass das Problem nicht bei den Individuen liegt, sondern vielmehr als strukturelles Problem verstanden werden muss:

Da Soziale Arbeit im Wesentlichen kostenträgerfinanziert ist, bestehen wenige Anreize, „unternehmerisch“ zu agieren. Nur ein paar Gründe: Es besteht, insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels, nicht die Notwendigkeit, a) durch bessere Angebote neue „Kunden“ zu gewinnen. Außerdem besteht kaum Anreiz, b) „möglichst gute“, wirksame Soziale Arbeit zu leisten, damit die eigene Organisation weiterempfohlen wird. Hinzu kommt, dass c) die Vergütung Sozialer Arbeit in den meisten Fällen auf Tarifverträgen basiert, die wiederum wenig Anreize schaffen, besonders innovativ, überdurchschnittlich gut oder besonders effizient zu arbeiten. Und nein, der völlige organisationale und individuelle Burnout (spannend dazu der aktuelle Bericht der DAK) aufgrund schlechter Rahmenbedingungen (ausgelöst insbesondere durch den Fachkräftemangel) ist keine Effizienz. Hinzu kommt, dass d) das für gelingende Digitalisierung notwendige iterative Vorgehen, das Experimentieren und Lernen, den Finanzierungsbedingungen der Kostenträger zuwiderläuft – in der Regelfinanzierung ebenso wie (zumindest offiziell) in der Finanzierung innovativer Projekte (deren Anschlussfinanzierung oftmals völlig unklar bleibt).

Kurz: Die strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft laden nicht dazu ein, unternehmerisch zu agieren. Und die angesprochenen Punkte a) – d) sind alles andere als abschließend. Sie verdeutlichen nur, dass fehlende unternehmerische Kompetenzen – wie so oft – kein ausschließlich individuelles Problem sind.

Und der Blick in die Zukunft zeigt aktuell sehr dramatisch, dass die Rahmenbedingungen alles andere als besser werden. Die Kürzungen im Bundeshaushalt 2024 sprechen hier eine deutlich düstere Sprache. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bringt es auf den Punkt: „Die Pläne zwingen zu massiven Einschnitten bei sozialen Angeboten: von Freiwilligendiensten über die psychosoziale Versorgung Geflüchteter bis hin zur Unterstützung Arbeitsuchender.“ Marc Groß, Vorstandsvorsitzender der Liga-BW, sagt: „Sollten die Kürzungen wie vorgeschlagen beschlossen werden, trifft dies genau die Menschen, die es jetzt bereits am schwersten haben: Kinder, Jugendliche und Familien, Menschen in Armut, geflüchtete und zugewanderte Menschen“.

Und konkret im Kontext der Digitalisierung sind Einsparungen in Höhe von 3,5 Mio. Euro vorgesehen, die das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgesetzte Förderprogramm zur Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege durch Digitalisierung komplett aushebeln: „Hier werden die Verbände mitten im Aufbruch und in wichtigen strategischen Entwicklungen stark beeinträchtigt“, so die BAGFW.

Die Mitarbeiter:innen an der Basis aber sind nicht „geschult“ darin, Probleme „selbst in die Hand“ zu nehmen. Noch einmal: Das ist kein individueller Vorwurf, sondern strukturell bedingt. Und gleichzeitig ist es es relevant, genau hinzuschauen:

Das Jammern über schlechte Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, den Staat, die Politik, die da oben und diesdas hilft (und ist wirklich relevant) für die eigene Psychohygiene, verbessert die Situation aber nicht. Es gilt vielmehr, die eigene Freiheit zu nutzen. Und diese Freiheit ist in Organisationen mit der oben beschriebenen „dominierenden Informalität“ alles andere als klein. Denn gerade in dezentral organisierten, hochgradig komplex strukturierten Organisationen der Sozialwirtschaft ist vor Ort, im Team und oftmals auch völlig individuell zu entscheiden, was notwendig und möglich ist:

Es ist vor Ort zu entscheiden, welche Strukturen, Prozesse, Innovationen, Angebote und Dienstleistungen sinnvoll und machbar sind. Es ist vor Ort zu entscheiden, wie das Team miteinander möglichst gut arbeiten kann. Das für die strategische Ausrichtung der Organisation notwendige Gesamt-Leitbild ist vor Ort zu operationalisieren und anzupassen, damit die konkreten Bedingungen vor Ort in den Blick genommen und bedarfsgerecht im Sinne der Nutzer:innen gestaltet werden können. Die oberste Führungsebene hat – völlig nachvollziehbar – oft keinen Einblick in die notwendigen Bedarfe vor Ort.

Wir waren ja beim Thema Digitalisierung, Du erinnerst Dich? Da gilt das Gleiche:

Trotz der notwendigen Formalisierung durch Digitalisierung ist es nur vor Ort möglich, die für die Digitalisierung notwendigen iterativen Experimente zu starten bzw. gesamtorganisationale Experimente für vor Ort zu adaptieren und aus diesen zu lernen, damit Digitalisierung gelingen kann.

Was kann getan werden?

Der erste Punkt ist der weitere Kampf (leider muss dieser Begriff benutzt werden) um die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der strukturellen Bedingungen der Sozialwirtschaft. Lobbyarbeit, die Verständigung mit den Kostenträgern über die komplexen Bedingungen sozialer Arbeit, wirksame Öffentlichkeitsarbeit für die Anliegen und die Bedeutung sozialer Dienstleistungen sind heute wichtig und werden in Zukunft wichtiger.

Aber auch wenn die Rahmenbedingungen das wesentliche Problem darstellen, brauchen wir mehr sichtbare Beispiele von Menschen, die mutig neue Wege beschreiten und unternehmerisch Innovationen vorantreiben.

Mir fallen hier viele Menschen ein, die Beispiel für gelingendes Unternehmertum sein können. Hier nur drei Beispiele:

  • Die Diakonie An Sieg und Rhein entwickelt mit der integrierten Sozialberatung die Sozialberatung der Zukunft. Dabei arbeiten Berater:innen mit verschiedenen inhaltlichen Spezialisierungen kollaborativ in Echtzeit mit Klient:innen zusammen. Patrick Ehmann, Geschäftsführer der Diakonie An Sieg und Rhein berichtet hier im Podcast vom aktuellen Stand der Entwicklungen des neuen Beratungsansatzes.
  • Bei der SozKom GmbH unter Leitung der beiden Geschäftsführerinnen Kathrin Stern und Rita Resch hat ein eigenes organisationales Betriebssystems – die „sozKomKratie“ – entwickelt und strukturiert sich anders. Das führt bspw. dazu, dass sich die Organisation keine Sorgen um Fachkräftegwinnung machen muss. Mehr dazu kannst Du hier im Podcast anhören.
  • Thomas Mampel beschreibt in seinem aktuellen Blogbeitrag das vom Stadtteilzentrum Berlin-Steglitz entwickelte kleine, aber sehr feine Projekt „Mobile Lernwerkstatt Demokratie“. Mit Koffern voll mit Moderations- und Workshopmaterial führen die Kolleg*innen spannende Projekttage zur aktuell mehr als relevanten Demokratieförderung an Schulen und in Kinder- und Jugendprojekten durch.

Ich will damit sagen, dass es die „Intrapreneur:innen“ in sozialen Organisationen braucht und gibt.

Intrapreneur:innen sind Mitarbeitende, „denen die Balance zwischen dem persönlichen Einsatz für die eigenen – von der hegemonialen Norm in ihren jeweiligen Organisationen abweichende (!) – Werte und Ideale auf der einen und der Anpassung an die institutionalisierten Settings, in denen sie agieren, auf der anderen Seite gelingt“, wie Hannes hier im Blog schreibt.

Entsprechend gilt es, in sozialen Organisationen, die Intrapreneur:innen, die Menschen, die neue Wege ausprobieren wollen, lebendig werden zu lassen. Das klingt leichter, als es ist. Einige Taktiken für Intrapreneur:innen beschreibt Hannes hier in diesem lesenswerten Beitrag.

Darüber hinaus ist es relevant, dass in Studium und Ausbildung die Entwicklung neuer Wege in der Unsicherheit, das Experimentieren und Lernen als Voraussetzung für gelingende Digitalisierung, viel stärker und in der Breite verankert werden muss. Nur so lassen sich die heutigen und zukünftigen Herausforderungen meistern.

Der Blick in die Ausbildungslandschaft zeigt, dass es an vielen Stellen in Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen bereits tolle Projekte gibt, die „unternehmerische Kompetenzen“ fördern. Über diese Projekte muss es gelingen, die berufliche Identität der Menschen an der Basis dahingehend zu erweitern, dass sich diese Menschen nicht „nur“ als Anwält:innen für ihr Klientel, sondern auch als Entre- oder Intrapreneur:innen für die Entwicklung der Angebote, der Teams und Organisationen und damit als Anwält:innen des Sozialen verstehen.

Fazit: Digitalisierung muss gestaltet werden

Mal wieder ein viel zu langer Blogbeitrag. Aber vielleicht hast Du bis hierher durchgehalten. Also nur noch einmal kurz:

Jeder und jedem ist inzwischen bewusst, dass gelingende Digitalisierung mehr braucht als Technik. Gelingende Digitalisierung braucht

  • klare Erwartungen,
  • ein Verständnis für die Notwendigkeit der Formalisierung und
  • unternehmerische Kompetenz.

Und noch viel mehr, aber der Beitrag ist sowieso schon viel zu lang…


Wie steht es bei Dir persönlich und in Deiner Einrichtung um die drei hier beschriebenen Thesen? Stimmst Du zu? Oder wo siehst Du es anders? Lass es mich gerne wissen, als Kommentar hier im Blog, als Mail oder als Kommentar in den sozialen Medien. Freue mich, von Dir zu lesen.

Resonanz, Exnovation und Kooperation, oder: Das Ende des Business as usual für die Zukunft der Sozialwirtschaft

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Beendigung der Armut. Beseitigung der eklatanten Ungleichheit. Ermächtigung der Frauen. Dies sind die drei der fünf „außerordentlichen Kehrtwenden“, die laut dem neuen Bericht an den Club of Rome „Earth for All“ (vgl. Dixsons-Declève et al., 2022) notwendig sind, um die Risiken der Klimakatastrophe substanziell zu reduzieren. Angeführt werden darüber hinaus der Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems und der Einsatz sauberer Energie, um die Menschheit zu retten.

Der Anspruch Sozialer Arbeit

Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen – dies könnte gut eine anspruchsvolle Mission einer sozialen Organisation oder eines Wohlfahrtsverbands sein: Welt retten, um die Menschheit zu retten – reduziert auf das Machbare.

Das lässt den Anspruch Sozialer Arbeit erkennen: Soziale Arbeit will die Lebenswelt der Menschen, für die soziale Organisationen die (Mit-)Verantwortung tragen, besser machen, was auch beim Blick auf die Internationale Definition Sozialer Arbeit (vgl. DBSH, 2016) deutlich wird:

Soziale Arbeit fördert „gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. (…). Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern“.

Soziale Arbeit hat sich viel vorgenommen! Es stellt sich die Frage, ob wir – jede*r Einzelne, unsere Organisationen und die Soziale Arbeit als Ganzes – diesem Anspruch in der Vergangenheit gerecht wurden und in der Zukunft gerecht werden können.

Vergangenheit und Zukunft, oder: Das Ende des Business as Usual

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als „wahre Erfolgsgeschichte“ (Merten, 2001, 165) erzählen. Hans Thiersch spricht vom letzten Jahrhundert gar als „sozialpädagogisches Jahrhundert“ (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die Soziale Arbeit“ weiterentwickelt. Aber fördert sie wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt und die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen? Da können Zweifel aufkommen.

Und der IW-Kurzbericht „Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken“ (Hickmann, Koneberg, 2022) zeigt, dass Berufe in den Bereichen Sozialarbeit / Erziehung / Pflege schon heute besonders vom Fachkräftemangel betroffen sind. Das spüren die Beschäftigten an allen Ecken. Soziale Organisationen bewegen sich in den uns alle betreffenden Polykrisen (vgl. bspw. Scharmer, 2022) am Rande der Belastungsgrenze.

Für die Gestaltung der Zukunft ist da wenig Platz, denn wenn man linear in die Zukunft sozialer Organisationen blickt, ergibt sich folgendes Bild:

Angesichts demographischer Entwicklungen steigt der Gesamtbedarf an personenbezogenen Dienstleistungen bei gleichzeitig abnehmender Anzahl an Erwerbstätigen. Herausforderungen wie Digitalisierung, Energiekrise, Krieg, Klimakatastrophe kommen hinzu.

Wenn es weitergeht, wie bisher, können die Belastungsdämme der Organisationen und der Sozialwirtschaft nicht mehr lange standhalten.

Die triviale Folgerung aus diesem kurzen Überblick muss lauten (und nach Innen und Außen lauter werden):

 Ein „Weiter so!“, ein „Business as usual“ kann und wird nicht mehr funktionieren. Es braucht „Transformation hin zum Neuem“!

Aber wie sieht das Neue aus? Und vor allem: Wie kann die Transformation dorthin gelingen?

Um diese Fragen spezifisch für soziale Organisationen zu beantworten, lohnt es sich, ausgehend von den Kehrtwenden des Club of Rome, den Blick zu weiten: Wie kann Transformation auf globaler Ebene gelingen und was lässt sich daraus für soziale Organisationen lernen und adaptieren?

Gemeinsam Spüren, oder: Echte Transformation braucht neues Lernen

Im Folgenden wird eine von drei notwendigen Veränderungen herausgegriffen, die angesichts der aktuellen Krisen erforderlich sind, um die Forderungen des Club of Rome auf der systemischen Makroebene, also auf globaler, nationaler und/oder der Ebene der Funktionssysteme (Bildung, Politik, Gesundheit, Soziales…) umzusetzen:

Es braucht die Transformation des Lernens – weg von der Leistungs- und Prüfungsorientierung hin zur Entwicklung von Fähigkeiten zum gemeinsamen Spüren und zur gemeinsamen, ko-kreativen Gestaltung der Zukunft (vgl. Scharmer, 2022).

Der Gedanke, dass wir zur Bewältigung der globalen Krisen die Art, wie wir Lernen verstehen, ändern müssen, ist nicht neu: Bereits der im Jahr 1979 im Anschluss an den 1972 veröffentlichten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte Bericht des Club of Rome unter dem Titel „No limits to learning“ rückt explizit das Thema „innovative learning“ in den Vordergrund. Darunter ist ein Lernen zu verstehen, das Kreativität und effektive Kooperation ins Zentrum rückt (vgl. Göpel, 2022, 132). Über Neu-Lernen, die Entwicklung kreativer Fähigkeiten und Kooperation kann es gelingen, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

So wissen wir, was wir tun sollten, kommen aber oft nicht ins Handeln. Rechtliche, institutionelle und individuelle Abhängigkeiten hindern uns daran, gemeinsam neu zu Lernen und das Business as usual nicht nur ernsthaft infrage zu stellen, sondern wirklich anders zu agieren.

Aber wie können wir neu Lernen lernen und das kollektive Gefühl von „so kann es nicht mehr weitergehen“ transformieren in das Neue?

Dazu braucht es (vgl. Scharmer, 2022):

  • institutionelle Infrastrukturen, die alle relevanten Akteure zusammenbringen, um das System gemeinsam zu gestalten,
  • Führungsinstrumente und -kapazitäten, um das Bewusstsein der verschiedenen Akteure von einer Silo- zur Systemsicht zu verändern und
  • finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der oben genannten Maßnahmen.

Resonanz erzeugen, oder: Co-kreative institutionelle Infrastrukturen

Wir sind gefordert, in unseren Organisationen co-kreative institutionelle Infrastrukturen und damit Dialogräume zu gestalten, in denen es gelingt, Resonanz (vgl. Rosa, 2022) zwischen den Themen und den verschiedenen Akteur*innen zu erzeugen.

Resonanz meint a) die Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ (ebd., 57). Damit ist das Hören und Spüren des dezidiert Anderen, des Neuen gemeint – „und das kann durchaus irritierend sein“ (ebd., 59). Hier ist die Verbindung zur organisationalen Innovations- und damit Lernfähigkeit interessant: Für die Ermöglichung von Innovation ist es notwendig, „irritationsrelevante Informationen“ wahrzunehmen bzw. sich von diesen „anrufen“ lassen zu können.

Aus dem „angerufen werden“ folgt b) die Selbstwirksamkeit: „Ich stelle plötzlich fest, (…), dass ich in der Lage bin auf das Empfangene zu reagieren“ (ebd., 60). In Bezug zur organisationalen Innovationsfähigkeit gilt es, die irritierenden Informationen aus der Umwelt für die Organisation nutzbar machen zu können.

Aus der Fähigkeit, „sich anrufen zu lassen“ und selbst wirksam zu werden entsteht dann c) die Möglichkeit echter Verwandlung bzw. Transformation:

„Da, wo Resonanz zustande kommt, wo ich wirklich aufhöre, und mich mit dem, was mich erreicht, verbinde, verwandle ich mich“ (Rosa, 2022, 62).

Und genau darum geht es: Um Verwandlung, um Transformation, die als Abkehr vom Business as Usual das Neue, echte Innovation und tiefgreifende Veränderung ermöglicht.

Der Moment der Resonanz kann jedoch nicht gekauft, hergestellt oder erzwungen werden. Resonanz ist d) unverfügbar (vgl. ebd., 64). Und genauso ist es in Organisationen:

Appelle an die Mitarbeiter_innen, „jetzt aber mal innovativ zu sein“ oder das Erzwingen nicht resonanzfähiger „New Work Maßnahmen“ werden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ergebnislos verpuffen, wenn nicht echte, strukturelle Veränderungen erfolgen, die anderes Arbeiten nach sich ziehen.

Auf-Hören, oder: Systemische Führungsinstrumente und -kapazitäten

Im obigen Zitat irritiert das Wort „aufhören“. Rosa verbindet mit dem Auf-Hören das sich „anrufen und erreichen lasse[n] von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-Do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist“ mit dem gängigen Verständnis des Begriffs Aufhören im Sinne von „anhalten, stoppen“ (ebd., 56).

Beides ist wichtig: Zum einen gilt es, aufzuhorchen und sich von den irritierenden Informationen aus der Umwelt anrufen zu lassen, um daraus Neues zu gestalten. Zum anderen gilt es aber auch, aufzuhören und Aktivitäten zu stoppen, die keinen Mehrwert für die Menschen und die Organisation liefern.

Es lohnt die Beschäftigung mit Exnovation – der anderen Seite von Innovation: Exnovation heißt, dass Nutzungssysteme, Prozesse, Praktiken oder Angebote, die getestet und bestätigt wurden, aber nicht mehr wirksam sind oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmen, eingestellt werden (vgl. Epe, 2022). Exnovation heißt jedoch keinesfalls, in der Organisation eine Kultur der Nicht-Innovation zu propagieren. Exnovation, das Aufhören, die Abschaffung, das Beenden, gehört zur Innovation zwingend dazu – wie zwei Seiten einer Medaille.

Und hier sei mit Blick auf das „sozialpädagogische Jahrhundert“ die Frage gestattet: Wo haben wir im Sozialwesen erfolgreich Dinge nicht mehr getan, nicht (mehr) wirksame Angebote nicht weitergeführt und wirklich aufgehört, um so Raum für Neues zu schaffen?

Gleiches gilt institutionell: Anstatt grundlegende, strukturelle Barrieren zu beseitigen, die die Veränderung des Systems blockieren, versuchen wir, Menschen zu motivieren, „sich zu verändern“ und neue Methoden und Angebote zu schaffen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten. Echtes Lernen und damit Veränderung komplexer sozialer Systeme geschieht aber nicht, indem wir „mehr des Gleichen“ tun. Die Beseitigung struktureller Barrieren, das Weglassen, das Exnovieren ist oft der wirkungsvollste Hebel, um soziale Systeme und damit Organisationen in Veränderung zu bringen.

Veränderung bedeutet, etwas aus dem gewohnten Trott zu bringen. Es mag zwar oberflächlich beruhigend und entlastend sein, sich an Routinen und Business as usual zu klammern. Sinnvoller ist aber die Frage: Was von dem, was wir in unserer Organisation oder im Team tun, kann weg, womit können wir aufhören?

Bezogen auf Vorgaben in Organisationen hat sich zur Beantwortung der Frage die einfache Methode „Kill a stupid rule“ bewährt:

  1. In Kleingruppen sammeln die Beteiligten regelmäßig bestehende Regeln aus ihrer Organisation, die sie gerne abschaffen/ändern würden und notieren diese.
  2. Die Notizen werden vorgestellt und in ein Koordinatensystem eingruppiert: wenig bis sehr aufwändig und kleine bis große Wirkung.
  3. Ideen mit wenig Aufwand und großer Wirkung können direkt angegangen werden. Ideen mit mehr Aufwand kann man priorisieren und nach und nach umsetzen.

Eigentlich einfach, aber wir wissen auch: Das Auf-Hören fällt schwer – gesellschaftlich, organisational und individuell.

Kooperation, oder: Finanzielle Mechanismen zur Finanzierung und Skalierung der Maßnahmen

So, wie in unseren Organisationen nicht eine Person allein „den Laden am Laufen hält“ lässt sich die Transformation der Gesellschaft nicht durch „den einen Hebel“ und damit losgelöst von anderen sozialen Systemen betrachten. Mehr noch:

„Kooperation war die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung des Lebens, und sie ist bis heute ein das Leben in all seinen Varianten begleitendes Phänomen geblieben“ (Bauer, 2006, 221).

Wollen wir die Zukunft des Sozialwesens gestalten und die Abkehr vom Ego- zum Eco-System und Möglichkeiten gestalten, „vom größeren Gesamtsystem aus zu handeln“ (Scharmer, 2013, 220), müssen wir eine Kultur der Kooperation (wieder)beleben, auch wenn dies „ein radikaler Gegenentwurf zum neoliberalen und zum auf Verdrängungswettbewerb und Auslese aufbauenden darwinistischen Menschenbild [ist], das Ökonomie und Gesellschaft seit langer Zeit und heute noch prägt“ (Seliger, 2022, 119).

Kooperation erfolgt in vielen Fällen bereits zwischen sozialen Organisationen und zwischen unterschiedlichen Verbänden (auch wenn es hier ebenfalls Entwicklungsbedarf gibt). Aber gerade mit Blick auf die Finanzierung Sozialer Arbeit ist der Blick auf Kooperation hochgradig relevant:

Soziale Organisationen sind in ihrer Finanzierung im Wesentlichen abhängig von Sozialleistungsträgern. Entsprechend greift der isolierte Blick auf die institutionelle Transformation, auf innerorganisationale Veränderungsnotwendigkeit zu kurz – ohne damit zu sagen, dass innerhalb der Organisationen keine Veränderungen stattfinden sollten – da sie in der Finanzierung ihrer Leistungen abhängig sind von den Sozialleistungsträgern.

Eine Herausforderung der Verbindung von Sozialleistungsträgern auf der einen und sozialen Organisationen als Leistungserbringern auf der anderen Seite besteht aber darin, dass beide Systeme unterschiedliche binäre „Leitdifferenzen“ (Codes) aufweisen, anhand derer sich die Entscheidungen im jeweiligen System orientieren.

Soziale Organisationen wägen ihre Entscheidungen – sehr grob formuliert – anhand der Leitdifferenz „Helfen / nicht helfen“ (vgl. Kleve, 2007, 147) ab, wohingegen die Sozialleistungsträger ihre Entscheidungen anhand der Leitdifferenz „Rechtlich vorgegeben / nicht vorgegeben“ abwägen.

Daraus folgt, dass soziale Organisationen komplexe soziale Probleme anders angehen würden, wenn die Finanzierungsmöglichkeiten dies zuließen. So wird bspw. die Einbeziehung der Klient*innen und die Stärkung ihrer Autonomie und Selbstbestimmung in allen moderneren Methoden Sozialer Arbeit gefordert, deren Umsetzung jedoch in Teilen durch die Notwendigkeit konterkariert, sich an die Vorgaben der Sozialgesetze zu halten, um darüber die Finanzierung sicherzustellen.

Zur zukünftigen Sicherstellung einer sinnvollen Finanzierung ist es also notwendig, die Kooperation zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern deutlich zu steigern, um über den Dialog ein gegenseitiges Verständnis der Notwendigkeiten wirksamer Finanzierung herzustellen.

Außerdem ist in sozialen Systemen, großen wie kleinen, alles miteinander verbunden (vgl. Göpel, 2022, 36ff). Entsprechend muss der kooperationsfokussierte Blick über die Grenzen der Sozialwirtschaft hinaus geweitet werden: Kooperation muss auch verstärkt zwischen anderen Unternehmen und Funktionssystemen gestärkt werden, um Transformation zu ermöglichen.

Das Ausweiten der Kooperation vereinfacht wiederum das unverzichtbare „Sich-anrufen-lassen“ von anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten, die ergriffen werden können, um gelingende Zukunft zu gestalten.

Das Ende des Business as usual, oder: Mutige Visionen für die Zukunft der Sozialwirtschaft

Es muss nicht wiederholt werden, dass die Herausforderungen, denen sich soziale Organisationen heute und in Zukunft widmen müssen, massiv sind. Sie werden heute nicht absehbare Veränderungen erfordern. Einfache Antworten und Business as usual werden aber definitiv nicht funktionieren, auch wenn die Suche nach Sicherheit und Beständigkeit in einer hyperaktiven Welt allgegenwärtig ist. Aber es hilft nicht, angesichts der Dynamik und Komplexität der Herausforderungen den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gute in der aktuellen Situation: In allen Problemen (ver-)stecken sich auch Chancen, wenn wir lernen, mutige Visionen der Zukunft der Sozialwirtschaft in den Blick zu nehmen:

Mutige Visionen brechen mit dem Business as Usual. Sie helfen uns, die Gegenwart hinter uns zu lassen und damit neue Perspektiven einzunehmen.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und gehen an Ihren Arbeitsplatz. Dort muss über Nacht ein Wunder geschehen sein und es ist alles so, wie Sie es sich schon immer erträumt haben:

  • Woran bemerken Sie, dass sich etwas verändert hat?
  • Was sind die größten Unterschiede zu gestern?
  • Wie fühlt sich die Veränderung an? Was ist beglückend?
  • Mit welchem Bild würden Sie die neue Situation Ihrer Organisation darstellen?

Beginnen Sie, Ihre Vision mutig zu malen, denn

„Mut heißt nicht, keine Angst zu haben! Mut heißt nur, dass man trotzdem springt!“ (Sarah Lesch).


Quellen:

  • Botkin, J. W., Elmandjra, M., Malitza, M.: No limits to learning: bridging the human gap. 1st ed. Pergamon international library. Oxford; New York: Pergamon Press, 1979.
  • DBSH. Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. 2016. Download unter: https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html. Abruf am 16.12.2022.
  • Dixson-Declève, S., Gaffney, O., Ghosh, J., Randers, J., Rockström, J., Espen Stoknes, P.:  Earth for all: ein Survivalguide für unseren Planeten. Übersetzt von Rita Seuß und Barbara Steckhan. 4. Auflage. München: oekom, 2022.
  • Epe, H.: Exnovation, oder: Verlernen allein reicht (oft) nicht! Download unter: https://www.ideequadrat.org/exnovation/. Download am 03.01.2023.
  • Göpel, M.: Wir können auch anders: Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin: Ullstein, 2022.
  • Hickmann, H., Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. IW-Kurzbericht Nr. 67. Download unter https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2022/IW-Kurzbericht_2022-Top-Fachkr%C3%A4ftel%C3%BCcken.pdf. Download am 20.12.2022.
  • Kleve, H.: Postmoderne Sozialarbeit: ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2007.
  • Merten, R.: Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192, 2001.
  • Rosa, H.: Demokratie braucht Religion. München: Kösel-Verlag, 2022.
  • Scharmer, O.: Protect the Flame. Circles of Radical Presence in Times of Collapse. 2022. Download unter: https://medium.com/presencing-institute-blog/protect-the-flame-49f1ac2480ac. Abruf am 15.12.2022.
  • Scharmer, O.: Theorie U – von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. 3. Aufl. Management. Heidelberg: Carl-Auer-Verl, 2013.
  • Seliger, R.: Systemische Beratung der Gesellschaft: Strategien für die Transformation. Erste Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH, 2022.
  • Thiersch, H.: Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.

Hinweis: Der Text ist vorab (in leicht angepasster Version) in den „Blättern der Wohlfahrtspflege“, 3/23, veröffentlicht worden. doi.org/10.5771/0340-8574-2023-3-96!


Fünf Schritte zur gelingenden Transformation

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Ein sanfter Wind streicht über eine weitläufige Wiese, als ich mich dort niederlasse. Es ist 08:45 Uhr und ich genieße den lauwarmen Wind. Es ist noch etwas Zeit vor dem nächsten Termin. Diesen kostbaren Augenblick nutze ich, um nachzudenken – über den anstehenden Termin, der sich der Entwicklung einer Weiterbildung zur Transformation in sozialen Organisationen widmet, vor allem aber über Transformation im Allgemeinen. Transformation – ein großer Begriff mit einer tiefgreifenden Bedeutung:

Transformation lässt sich definieren als wesentliche Veränderung des aktuellen Ist-Zustands hin zu einem angestrebten Ziel.

Einige Tage nach meinen ersten Skizzen für diesen Text wird mir klar, dass wesentliche Veränderungen manchmal viel schneller und dringlicher erforderlich sind, als man es sich noch vor einem Tag, einer Stunde, einer Minute vorstellen konnte. Das gilt in der Gesellschaft (bspw. Sonneberg), das gilt in Organisationen und das gilt ganz individuell.

Auf dem Weg zum genannten Termin habe ich den Podcast „Zukunft der Nachhaltigkeit“ der Bertelsmann-Stiftung gehört. Insbesondere die Episoden 13 und 14 haben meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, da sie sich mit den „Grenzen des Wachstums“ und der sozial-ökologischen Transformation befassen.

Dabei ist mir ein Satz besonders im Gedächtnis geblieben:

„Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir nicht mehr handeln können!“

Dieser eindringliche Satz stammt von Prof. Erich Zahn, einem emeritierten Professor und Mitautor der bedeutenden Publikation „Die Grenzen des Wachstums“, die 1972 vom Club of Rome veröffentlicht wurde.

Der Satz erinnert mich auch an die Situation, in der sich soziale Organisationen bald wiederfinden könnten – wenn sie nicht handeln.

Doch wie sollen sie handeln? Wie gelingt Transformation. Und wer trägt die Verantwortung dafür?

Das „Mind-Behavior-Gap“ überwinden

Im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit, insbesondere im Zusammenhang mit der Klimakatastrophe, ist oft klar, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Viel erschreckender ist jedoch die Kluft zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tatsächlich umsetzen – das sogenannte „Mind-Behavior-Gap“.

Im Hinblick auf die sozial-ökologische Transformation scheinen alle Erkenntnisse bereits auf dem Tisch zu liegen. Wir müssen nun „nur noch“ in die Umsetzung kommen, sei es auf individueller, organisationaler, lokaler, regionaler, nationaler oder globaler Ebene.

Meine Überlegungen zur organisationalen Transformation werfen jedoch einige Fragen auf:

Die Change Formel als Framework gelingender Transformation

Was muss getan werden, um neben der ökologischen Nachhaltigkeit auch die soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit von Organisationen in den Fokus zu rücken? Wer trägt die Verantwortung für die Umsetzung? Wie gelangen wir vom aktuellen Ist-Zustand zum angestrebten Ziel? Und vor allem:

Wozu eigentlich?

Es ist eine komplexe Thematik.

Das Framework der „change formel“ bietet eine wertvolle Orientierung und kann helfen, Transformationskompetenz zu entwickeln.

Es besteht aus fünf Schritten, die bei nahezu allen Transformationsvorhaben – sei es auf individueller, organisationaler oder gesellschaftlicher Ebene – gute Dienste leisten können.

Schritt 1: Transformation braucht echte Probleme

Der erste Schritt besteht darin, die wirklichen Probleme zu identifizieren.

Oftmals werden singuläre Themen isoliert betrachtet, und es scheint klar zu sein, was verändert werden muss. Es werden Forderungen wie „Wir müssen digitaler, schneller, agiler, selbstorganisierter, wirtschaftlicher, effizienter, effektiver, nachhaltiger, wirksamer, attraktiver, whatever… werden“ formuliert.

Doch die reine Forderung der Veränderung, ohne dass diese ein echtes Problem löst, führt lediglich dazu, dass die Begriffe und Bemühungen in diesem Bereich verbrannt sind.

Daher ist es wichtig, die Komplexität zu reduzieren und sich für gelingende Transformation auf echte Probleme zu konzentrieren, mit denen die der Mensch, das Team, die Organisation oder die Gesellschaft konfrontiert ist.

Schritt 2: Transformation braucht Visionen

Nachdem die echten Probleme identifiziert wurden, geht es im zweiten Schritt darum, eine attraktive Vision zu entwickeln:

  • Wie soll der angestrebte Zielzustand aussehen?
  • Wie fühlt sich die Vision an?
  • Wie klingt sie?
  • Wie riecht sie?

Die Spannung zwischen dem realen Problem und der attraktiven Vision erzeugt Veränderungsenergie und motiviert zur Transformation.

Schritt 3: Transformation braucht Ressourcen

Problem und Vision allein reichen nicht aus.

Im dritten Schritt gilt es, Ressourcen zu identifizieren, die für die Transformation genutzt werden können.

Ressourcen sind nicht nur finanzieller oder zeitlicher Natur, sondern auch „Erfolgsgeschichten“ und Netzwerke von Personen – in der Organisation oder dem Sozialraum – die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und mitzugestalten.

In Workshops zur Identifizierung der vorhandenen Ressourcen ist es oft überraschend zu sehen, wie die Mitarbeiter:innen den Blick von den Problemen hin zu den Möglichkeiten der Organisation und damit den Möglichkeiten gelingender Transformation lenken. Es kommen verborgene Schätze ans Licht.

Schritt 4: Transformation braucht next steps

Nun folgen konkrete Schritte, die im vierten Schritt formuliert werden.

Ohne konkrete nächste Schritte, die terminiert werden und für die jemand die Verantwortung übernimmt, wird keine Veränderung stattfinden, weder im Kleinen noch im Großen.

Hilfreich ist es, die nächsten Schritte als Hypothesen zu formulieren:

„Wenn wir XY tun würden, erwarten wir, dass Z passiert!“

Diese Hypothesen können dann in Form von Experimenten umgesetzt, erprobt, verändert, entwickelt und etabliert werden.

Falls ein Experiment nicht erfolgreich ist, kann es auch verworfen werden. Die Entscheidung darüber, was mit einem Experiment im Sinne des nächsten Schritts geschehen soll, erfolgt in Schritt 5.

Schritt 5: Transformation braucht Reflexion

Der fünfte und letzte Schritt besteht darin, regelmäßig zu reflektieren, ob das Experiment und damit die angestrebte Veränderung auf dem richtigen Weg ist.

Es ist wichtig, regelmäßige Retrospektiven durchzuführen, um zu überprüfen, ob die Transformation den gewünschten Effekt erzielt und ob Anpassungen oder weitere Schritte erforderlich sind. Dabei geht es um das Lernen aus dem, was zur Veränderung getan wurde.

Hier findest Du einen Beitrag, in dem ich beschreibe, wie man Retrospektiven durchführen kann und damit gemeinsames Lernen gelingt.

How to transform? Eigentlich einfach…

Damit haben wir 5 Schritte für gelingende Transformation:

  1. Probleme,
  2. Vision,
  3. Ressourcen,
  4. next steps und
  5. Retrospektiven.

Diese „change formel“, angelehnt an die Ausführungen von Ruth Seliger und erweitert durch meine eigene Perspektive, erweist sich bei nahezu allen Transformationsvorhaben auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene als äußerst hilfreich.

Relevant dabei ist jedoch, zu beachten, dass wir uns – ich hatte das oben erwähnt – in komplexen und dynamischen Systemen bewegen. Auch wenn 5 Schritte gelingender Transformation verlockend einfach und irgendwie nach Rezept klingen, sind die Dynamiken psychischer ebenso wie sozialer Systeme nicht zu vernachlässigen. Widerstände, Beharrungstendenzen, die nächste Krise, der Tag am See verhageln immer wieder die „eigentlich so einfache“ Vorgehensweise.

Entsprechend relevant ist Schritt 5 – die kontinuierliche Reflexion und Anpassung im aller Wahrscheinlichkeit nicht endenden Transformationsprozess.

Zusammenfassend aber ist die Change Formel ein hilfreiches Framework, um Orientierung in der Veränderung zu haben. Sie ermöglicht eine strukturierte(re) Herangehensweise.

Und sie macht deutlich, dass allein ein fehlender Schritt dazu führt, die Veränderungsenergie erlöschen zu lassen.


Falls Du nähere Ausführungen zur Ansatzpunkte für gelingende Transformation wünschst, findest Du hier meinen Beitrag zur IdeeQuadrat New Work Canvas. Darin gibt es auch eine detaillierte Erklärung ebenso wie Beispiele zur Anwendung der „change formel“.

Ach ja, eins noch: Diesen Beitrag gab es – in etwas anderer Form – zuerst als Newsletter, zu dem Du Dich hier anmelden kannst.

New Social Work, eine Zwischenbilanz – Part II: Der Blick zurück!

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Nach Part I – meiner New Social Work Definition – findest Du hier Part II der Serie „New Social Work Zwischenbilanz“. Darin werde ich auf meinen ganz persönlichen Weg hin zu New Social Work schauen und dann – anhand der vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) etwas strukturierter die Anfänge der Entwicklungen rund um New Social Work darlegen.

Meine Anfänge rund um New Social Work

Damals, genauer 2014, habe ich – wie gesagt – das Buch „Reinventing Organizations“ verschlungen, erst auf Englisch als PDF, dann analog auf Englisch und Deutsch. Ich war fasziniert: Eine neue Art, Organisationen, Arbeit und übergreifend auch tradierte Grundprinzipien unseres Lebens in unserer Gesellschaft zu (über)denken.

Kurz zur Wiederholung: Laloux hat damals eine Studie bei 12 Organisationen durchgeführt. Die Kriterien zur Auswahl der Organisationen waren: mind. 100 Mitarbeiter sowie mindestens 5 Jahre Arbeit nach Strukturen und Prozessen, Praktiken und Kulturen, die mit den Merkmalen des integralen evolutionären Paradigmas übereinstimmen.

Es wurden Fragen gestellt, die sich auf 45 Praktiken und Prozesse in diesen Organisationen beziehen. Dabei wurden zentrale übergreifende Organisationsprozesse wie Strategie, Marketing, Verkauf, Unternehmensführung, Finanzplanung oder Controlling sowie wichtige Prozesse im Bereich Human Resources (bspw. Einstellungen, Weiterbildungen) und „Praktiken des Alltags“ wie Meetings, Organisationsfluss oder die Ausstattung der Büroräume in den Fokus genommen.

Es wurde versucht herauszufinden, „ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Pioniere von konventionellen Managementmethoden unterscheiden“ (ebd., 8).

Ohne hier in die Tiefe zu gehen, lässt sich das Ergebnis der Studie dahingehend zusammenfassen, dass die Studie die drei wichtigen „Durchbrüche“ oder Prinzipien Selbststeuerung (oder Selbstführung), Ganzheit und evolutionären Sinn als wesentlich für Organisationen des integralen evolutionären Paradigmas gezeigt hat.

Selbststeuerung bedeutet, dass alle Mitglieder der Organisation alle Entscheidungen selbst treffen können, sofern sie sich 1. den Rat der von der Entscheidung Betroffenen und 2. den Rat der Experten in der jeweiligen Angelegenheit eingeholt haben. Ein wesentlicher Aspekt ist hier die Transparenz und der Zugang zu Informationen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können.

Evolutionärer Sinn bedeutet, dass die Organisationen, in denen die genannten Prinzipien funktionieren, einem klaren Sinn, einem Unternehmenszweck folgen, der für alle Mitglieder der Organisation verständlich, einleuchtend und sinngebend ist. Dabei geht es nicht nur um die „Weltverbesserung“, auch bspw. der Zweck der Schaffung von Arbeitsplätzen in einer strukturschwachen Region kann sinnstiftend wirken. Mit klaren, auf den Zweck ausgerichteten, freien Entscheidungen aller Mitarbeitenden wären bspw. Zielvereinbarungen hinfällig, da jeder wüsste, welchen Beitrag er zur Erreichung des Zwecks zu leisten imstande ist.

Ganzheitlichkeit bedeutet, dass „der ganze Mensch“ mit all seinen Emotionen, Zweifeln, Gedanken usw. die Organisation mitgestaltet. Daraus entsteht einer Kultur der Offenheit, Wertschätzung und Akzeptanz.

Die Verbindung der bei Frederic Laloux formulierten Kernaussagen von „teal organizations“ – Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und evolutionärem Sinn – mit den grundlegenden Funktionslogiken sozialer Organisationen war augenöffnend.

Denn davon ausgehend, dass

  • soziale Organisationen einen Zweck verfolgen, der sinnstiftend ist („Helfen“ oder Menschenrechte oder wie auch immer) und
  • das Menschen, die im Bereich der Sozialen Arbeit tätig sind, über ein bio-psycho-soziales Menschenbild der „Ganzheitlichkeit“ aufgrund ihrer Profession verfügen (sollten) und
  • darüber hinaus in der täglichen Arbeit immer wieder eigenverantwortlich, selbstgesteuert, idealerweise vor dem Hintergrund einer professionellen Haltung, mit entsprechendem Wissen, Kompetenzen und Methoden agiert und reagiert werden muss (wenn ich nicht blitzschnell eine Entscheidung treffe, haut der Jugendliche mir eine auf die Nase),

ist anzunehmen, dass Organisationen der Sozialwirtschaft „eigentlich“ das Ideal an eine neue Arbeitswelt, an eine „New Social Work“ verkörpern.

Der Blick auf und in Soziale Organisationen hingegen zeigte ein anderes, formal-hierarchisches Bild tradierter Organisationen, deren Mitglieder schon damals hohe Burn-Out-Raten aufwiesen und Sinnstiftung nicht unbedingt an erster Stelle stand.

Spätestens beim Blick auf einen Kernbereich sozialer Arbeit – die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen – wurde deutlich:

Solange die Professionellen an vielen Stellen im Sozialwesen selbst nicht autonom und selbstbestimmt handeln können (begründet in organisationalen wie auch gesetzlichen Bedingungen) wird es schwer, wenn nicht gar unmöglich, Selbstbestimmung und Autonomie der Klient:innen zu stärken.

Seit diesem Zeitpunkt lassen mich Fragen rund um die funktionale Entwicklung, rund um die Gestaltung und das Design sozialer Organisationen nicht mehr los:

  • Machen klassische Hierarchien Sinn, wenn es um die Stärkung von selbstbestimmt agierenden Teams geht?
  • Wie organisieren wir Arbeit in der Sozialen Arbeit?
  • Macht die Art, wie wir soziale Organisationen denken und gestalten, überhaupt Sinn?
  • Welche Antworten können andere, auf den ersten Blick „moderne“ Ideen von Zusammenarbeit – bspw. die Ideen rund um Agilität – helfen, besser im Sinne der Nutzer:innen sozialer Dienstleistungen zu agieren?
  • Wie kann es besser gelingen, soziale Organisationen zu gestalten?

Reinventing Social Organizations und New Work

Neben dem Blick auf die Gestaltung der Organisationen kam ein zweiter Aspekt hinzu: Die „Real New Work“ im Sinne Frithjof Bergmanns. Auch hier kurz zur Wiederholung zusammenfassend:

New Work wurde von Bergmann als Alternative zum vorherrschenden Lohnarbeitssystem beschrieben. Bergmann geht es darum, dass unser Lohnarbeitssystem von Grund auf zu den in unserer Gesellschaft zunehmend verstärkt auftretenden Problemen führt:

“Sie besondere Form der Arbeit, die wir ‚Lohnarbeit‘ nennen, ist erst so alt wie die industrielle Revolution, also ungefähr 200 Jahre. schon als dieses System eingeführt wurde, gab es warnende Stimmen, die ihm keine gute Zukunft voraussagten. heute krankt das Lohnarbeitssystem an vielfältigen und schweren Mängeln. Deshalb ist es an der Zeit, die Arbeit von Grund auf neu zu organisieren. das Lohnarbeitssystem ist dabei, zu sterben, und das nächste System, die neue Arbeit, muss aufgebaut werden.” (Bergmann, 2004, 11).

New Work nach Bergmann basiert darauf, das System der Lohnarbeit zu ersetzen durch ein System, das aus den drei Teilen

  • – Erwerbsarbeit (1/3),
  • – High-Tech-Self-Providing (Selbstversorgung, 1/3) und
  • – dem „Calling“, der Berufung bzw. der Arbeit, die man wirklich, wirklich will (1/3)

besteht.

Hintergrund der Entwicklung des Konzeptes war schon damals die Feststellung, dass die „klassische“ Erwerbsarbeit insbesondere aufgrund der Roboterisierungs- und Automatisierungsprozesse zurückgehen wird. Aktuelle Entwicklungen rund um die sich mit enormer Geschwindigkeit entwickelnde KI unterstreichen die visionären Gedanken von Bergmann, dessen Ausführungen auf der zusammenbrechenden bzw. sich ins Ausland verlagernden amerikanischen Automobilindustrie in den 1980er/1990er Jahren und dem Niedergang von General Motors basierten. Sehr kurz dargestellt:

Es gab einfach deutlich weniger Arbeit – für (fast) alle Menschen!

Bergmann schlägt als Alternative zur Entlassung der von der Automatisierung betroffenen Menschen vor (bspw. 2/3 der Menschen) vor, die verbleibende Arbeit auf alle Menschen zu verteilen. Die Arbeitszeit jede:r Einzelnen sinkt (vgl. aktuelle Debatten um die Vier-Tage-Woche) – etwas schematisch – auf 1/3 seiner (Arbeits-)Zeit, die mit klassischer Lohnarbeit verbracht wird. Dafür aber gäbe es kaum vollständig arbeitslose Menschen.

Mit diesem ersten Drittel Erwerbsarbeit gelänge es, so Bergmann, eine finanzielle Basis für alle zu schaffen. Gleichzeitig werden durch das erzielte Einkommen Anschaffungen möglich, die nicht durch eigene Arbeit oder nachbarschaftliche Netzwerke erzeugt werden können.

Damit sind noch etwa 2/3 Zeit übrig. Das zweite Drittel der zur Verfügung stehenden Zeit sollte – so Bergmann – mit Selbstversorgung auf technisch höchstem Niveau zugebracht werden. Hier geht es nicht ausschließlich (aber auch) darum, Kartoffeln im eigenen Garten anzubauen. Es geht darum, mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten (bspw. 3D-Druck) Dinge des täglichen Lebens (angefangen von der Kartoffel bis hin zu bspw. technischen Geräten) herzustellen.

Hinzu kommt, dass sich die Menschen zunehmend verstärkt Gedanken um den tatsächlich sinnvollen Konsum machen, wodurch sich der Bedarf nach Wachstum und neuen Produkten automatisch reduziert (vgl. hierzu die Notwendigkeit, ökologisch auf einen nachhaltigen Weg zu kommen). Außerdem bleibt Zeit, kaputte Dinge zu reparieren. Und immer noch bleibt 1/3 Zeit übrig.

Hier steht – als dritte Säule der „Real New Work“ – die Arbeit im Zentrum, die die Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“:

Ausgehend von der Prämisse, dass Arbeit grundsätzlich – und vor allem in und nach enormen Krisen – niemals endet, wenn man Arbeit als über das Lohnarbeitssystem hinausgehend definiert (bspw. Familie, Pflege, Ehrenamt, Aufbau), ist dieser Bestandteil des Konzepts „Neue Arbeit/Neue Kultur“ (so Bergmanns Buchtitel 2004) als wesentlich, als Kern, anzusehen.

Bergmann favorisierte hier einen evolutionären Ansatz der Systemveränderung, der nur nach und nach erfolgen kann, vorangetrieben durch Menschen, die sich in ihrem Tun an ihrem „Calvin“, ihrer Berufung und damit dem orientieren, was sie wirklich, wirklich tun wollen. Aus seiner Perspektive brauchte es also Menschen, die sich als Vorbilder allmählich unabhängiger machen vom Lohnarbeitssystem durch Unternehmertum (im Besten Sinne) in Verbindung mit High-Tech-Selbstversorgung.

Zusammenfassend also soll New Work im Sinne Bergmanns die Abhängigkeit vom Lohnarbeitssystem für alle Menschen reduzieren und selbstorganisiert Selbstständigkeit, Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft ermöglichen. Der Zwang zur beinahe ausschließlichen Partizipation an traditionellen Lohnarbeitsstrukturen, um damit den Lebensunterhalt zu bestreiten, kann sich damit auflösen.

New Work betrifft aus Perspektive von Bergmann damit über jeden einzelnen Menschen das Gesellschaftssystem, in dem wir leben, als Ganzes. Das Konzept fokussiert auf die Frage, wie viel Selbstbestimmung und Eigenverantwortung den Menschen selbst zugetraut werden kann und darf.

Und Bergmann ging es an keiner Stelle seiner Veröffentlichungen um die Gestaltung von bestehenden Organisationen. Bergmann ging es um die Suche nach einem dritten Weg zwischen Sozialismus (keine gute Idee) und Kapitalismus (auch keine gute Idee).

Wie aber sähe eine Welt aus, in der wir nachhaltig, in Gemeinschaften, Communities und lokalen Netzwerken, das produzieren, was wirklich gebraucht wird? Eine Welt, in der die existierenden Dinge repariert und damit möglichst lange im Leben erhalten werden? Und eine Welt, in der die Menschen Zeit finden, das zu tun, was sie „wirklich, wirklich wollen“?.

Ziemlich utopisch, irgendwie, aber wiederum hat der Blick auf die Soziale Arbeit für mich das Feuer entfacht, stärker nachzudenken:

Soziale Arbeit fördert eben nicht nur die Selbstbestimmung und Autonomie von Menschen, sondern – so wie es in der internationalen Definition Sozialer Arbeit heißt – gesellschaftliche Entwicklungen. Und genau das ist doch das, was Bergmann impliziert hat:

  • – Wie sähe eine Förderung gesellschaftlicher Entwicklungen aus, die „enkelfähig“ und damit nicht nur für ein paar wenige, privilegierte Menschen nützlich, sondern für – global – möglichst alle Menschen zukunftsfähig ist?

Die Verbindung der Gestaltung von lebendigen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten sozialen Organisationen und der Gestaltung von einer enkelfähigen Gesellschaft führte zu meiner „New Social Work Definition“.

Die vier Ebenen der New Social Work Zwischenbilanz im Rückblick

Nach diesen doch etwas ausführlicheren Vorgedanken 😉 will ich zumindest noch kurz auf die vier Ebenen einer New Social Work (Individuum, Organisationen, Sozialwesen und Gesellschaft) schauen.

Das Individuum im Rückblick

Es gibt – allein in Deutschland – etwa 80 Mio. Individuen, Tendenz leicht sinkend. Entsprechend maße ich mir nicht an, pauschale Aussagen zu treffen. Aber es lassen sich doch Entwicklungen über die letzten 10 Jahre erkennen, die zumindest ich ganz spannend finde.

Im Jahr 2014 sah die Welt (sofern man die Augen nicht weit öffnete) noch ziemlich rosig aus. Die wirtschaftliche Entwicklung war nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 wieder grandios, Arbeitslosigkeit war kein Thema, Greta war auch Freitags noch in der Schule und der Klimawandel damit irgendwie noch nicht ganz so dramatisch. Selbst „die Digitalisierung“ steckte noch – zumindest mit Blick auf das Sozialwesen – in den Kinderschuhen.

Ich bin alles andere als Historiker, aber vielleicht war in der breiten Bevölkerung zu dem Zeitpunkt wirklich alles irgendwie „im Lot“. Danach ergaben sich aber ein paar Entwicklungen, die ich hier, auf individueller Ebene, herausgreifen will:

Spätestens im Jahr 2018, mit dem Beginn des Streiks von Greta und der Entwicklung von Fridays for Future unter dem Motto „Wir streiken bis ihr handelt!“ wurde der Freitag zum internationalen Streiktag, an dem Kinder und Jugendliche (!) auf die Straße gingen. Aber dem Zeitpunkt mussten sich auch Erna und Franz aus Hintertupfingen genauso Otto Normalverbraucher mit der Frage auseinandersetzen, ob Freitags zur Schule gehen wichtiger ist als die Rettung der Lebensgrundlagen des Planeten. Fridays for Future wurde DIE Bewegung, die in aller Munde war. Spätestens als Greta Thunberg bei Politiker:innen international Gehör fand und mit Barack Obama, dem Papst und vor der UNO sprechen konnte, war klar, dass es bei diesem Klima irgendwie doch Handlungsbedarf gibt (auch wenn der erste Bericht des Club of Rome bereits 1972 alles Wichtige rund um die zu erwartende Katastrophe dargelegt hat).

Der zweite „Einschlag“ kam dann zum Beginn des Jahres 2020 mit der Pandemie. Ich will hier nicht wiederholen, wie die Entwicklungen gelaufen sind, denn jede:r hat wohl noch eigene Bilder, Erlebnisse, dramatische Geschichten aber auch positive Errungenschaften im Kopf, die mit der Pandemie einhergingen. Meinen Pandemiebeginn habe ich damals hier verewigt.

Als wir dann alle irgendwie glaubten, dass jetzt auch mal gut sei mit der Dystopie, hat ein Verrückter aus Russland befohlen, die Ukraine anzugreifen und einen Angriffskrieg auf europäischem Boden anzuzetteln. Neben allem Schrecklichen eines Krieges war plötzlich jede:r ganz unmittelbar betroffen von steigenden Energiepreisen, von der Angst der zukünftigen Entwicklungen und, und, und…

Abschließend nur noch der Hinweis auf die aktuellen Entwicklungen rund um die künstliche Intelligenz bzw. konkret um die KI-basierte Textgeneratoren, allen voran ChatGPT:

Auch wenn es viele Fragen und Unklarheiten gibt, sind die Entwicklungen, die sich seit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 ergeben haben, über einbrechende Börsenkurse bis hin zur Entlassung von angestellten Texter:innen, beachtlich. Für einen tieferen Einblick lohnen sich die letzten 30 Minuten des Podcasts „Jetzt mal ehrlich“ (Du musst Bock auf Start-Up-Denglisch haben).

Aus diesen nur skizzierten Entwicklungen folgt:

Wer sich mit Wandel schwertut, wird es in Zukunft schwer haben. Und unsere jede:r Einzelne und damit unsere Gesellschaft insgesamt tut sich wahnsinnig schwer mit Veränderungen. Wir sind es – etwas pauschal – als Individuen in den letzten 60 Jahren nicht mehr gewohnt, komplexe und dynamische Entwicklungen zu bewältigen und zu gestalten und müssen dies erst wieder lernen.

Für den Blick auf die Soziale Arbeit zeigt sich, dass die Entwicklungen der letzten Jahre die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, besonders hart treffen:

So ist der Klimawandel ein nicht nur ökologisches, sondern ein sozial-ökologisches Problem. Auf die massiven Auswirkungen der klimatischen Veränderungen insbesondere für Hilfsbedürftige – in Deutschland, Europa und natürlich auch global – weisen die Wohlfahrtsverbände an verschiedenen Stellen sehr deutlich hin (bspw. hier).

Die Steigerung der Energiekosten trifft – wenig verwunderlich – die von Armut betroffenen Menschen der Gesellschaft ganz anders als die „Oberschicht“ und auch die Auswirkungen der Roboterisierung und Technisierung und damit alles rund um KI und Co. sind ebenfalls für Menschen in prekären Lebenslagen massiver als für die „Bildungselite“ (für die diese Entwicklungen ebenfalls massive Auswirkungen haben werden).

Kurz: All die hier (alles andere als umfassend) skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen betrafen und betreffen jeden einzelnen Menschen und insbesondere das Klientel Sozialer Arbeit.

Ist es aber gelungen, passende Antworten – auch aus der Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit heraus – auf diese Entwicklungen zu finden? In meinen Augen zeigen insbesondere die politischen Entwicklungen und konkret das Wahlverhalten, dass dies bislang leider nicht gelungen ist. Die demokratiezersetzenden Tendenzen sprechen Bände. Das liegt – so meine Einschätzung – an der wenig ausgeprägten Unsicherheitsbewältigungskompetenz, die für die aktuellen Zeiten notwendig ist. Dazu aber im nächsten Teil dieser Serie – dem Blick auf den Status Quo rund um New Social Work – mehr.

Die Organisationsentwicklung im Rückblick

New Social Work ist ziemlich komplex, das gebe ich zu. Vielleicht war das Komplexe auch ein Grund, warum meine Ausführungen zu New Social Work hier im Blog oder auch auf ersten Veranstaltungen, auf denen ich sprechen durfte, damals zwar auf Interesse, aber auch auf Kopfschütteln stießen („Spannend, ja, aber wie soll das denn gehen?“).

Gerade die „Profiteure des bestehenden Systems“ (Vorstände, Geschäftsführungen, Führungskräfte, politische Entscheidungsträger:innen) waren damals doch (diplomatisch ausgedrückt) „zurückhaltend“, was die Ideen zumindest rund um die Neugestaltung von Organisationen anging.

Und die gesellschaftlichen Megatrends steckten (aus meiner Perspektive) in den Kinderschuhen der Sozialwirtschaft:

  • Die Digitale Soziale Arbeit nahm erst 2015/2016 so richtig Fahrt auf.
  • Der demographische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel waren zwar am Horizont als dunkle Wolke erkennbar, aber der Regenschirm stand unbenutzt zu Hause.
  • Und erst heute rückt die (sozial-)ökologische Nachhaltigkeit flächendeckend in sozialen Organisationen auf die Agenda, auch wenn der erste Bericht des Club of Rome auch damals nicht neu war.

Persönlich muss ich betonen, dass es richtig cool war und ist, dass es schon damals viele Menschen gab, die progressiv in die Zukunft geschaut, den Blog gelesen, die Ideen verstanden und geteilt haben. Viele Menschen im Digitalen und Analogen haben schon damals erkannt, dass es sinnvoll und notwendig war, das „Soziale“ neu zu denken. Und viele dieser Menschen sind für mich langjährige und treue Wegbegleiter:innen und Freund:innen geworden. Danke dafür!

Übergreifend aber war das Thema „Organisationsentwicklung“ noch nicht so präsent, wie es dann geworden ist. Zwar profitiere ich selbst natürlich von den Entwicklungen ;-). Und trotzdem ist Vorsicht geboten: Haben sich die Bedingungen wirklich verändert oder sitzen auch soziale Organisationen „Managementmoden“ auf?

Managementmoden lassen sich charakterisieren als „breit geteilte Vorstellungen darüber, wie Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser, Hochschulen, Schulen, Armeen, Polizeien oder Verbände besser organisiert werden können. Die Managementmoden suggerieren dabei, dass durch die Einführung neuer Gestaltungsprinzipien die Anpassungs-, Leistungs- und Innovationsfähigkeit erhöht werden können. Sie setzen mit diesem Versprechen an dem in Organisationen verbreiteten Bedürfnis an, wahrgenommene Defizite zu beheben und bisher nicht genutzte Verbesserungsmöglichkeiten zu erschließen“ (Kühl, 2022).

Und die Anziehungskraft von Reinventing Organizations in Verbindung mit dem aus der Softwarebranche ausbrechenden „agilen Management“ war enorm. Sätze wie „Endlich so arbeiten, wie wir das schon immer gewollt haben!“ oder „Selbstorganisation? Da kann ich dann endlich mal denen da oben zeigen, wie es richtig geht!“ oder „Wenn es gelänge, unseren Laden so richtig agil zu gestalten, wären alle Probleme der Welt gelöst!“ wurden zwar nicht explizit geäußert, implizit gab es aber schon eine „Goldgräberstimmung“, immer begleitet von einem sehr sympathischen Holländer, dem es gelungen ist, die Pflegebranche der Niederlande zu revolutionieren. Hier habe ich einmal dargelegt, warum Du Buurtzorg nicht als Vorbild nehmen solltest.

Und in einem meiner letzten Newsletter habe ich „vom Ende der Euphorie“ geschrieben. Darunter habe ich die Abkehr vom doch sehr utopisch anmutenden Frederic Laloux hin zum realen, etwas nüchternen Blick auf die Funktionsweise sozialer Organisationen als komplexe soziale Systeme verstanden. So machen formale Hierarchien genauso wie das Konzept der Trennung von Person und Rolle in Organisationen sehr viel Sinn (vgl. dazu ausführlich Matthiesen, Muster, Laudenbach, 2022).

Ich will und kann hier in diesem Beitrag nicht in die Tiefe gehen, aber die folgende Frage wurde in meinen Augen in den letzten Jahren zu wenig gestellt:

„Wenn Organisationsentwicklung hin zu mehr Agilität, Selbstorganisation und Co. die Lösung ist, was ist dann eigentlich unser Problem?“

Falls Du Lust auf mehr Theorie hast, empfehle ich Dir diesen Beitrag zur „dominierenden Informalität in Sozialen Organisationen“, in dem ich dargelegt habe, dass soziale Organisationen an vielen Stellen sogar stärkerer Formalisierung bedürfen und nicht das halbherzige Umsetzen der neuesten Managementmode.

Die Ebene sozialer Organisationen zeigt im Rückblick ein sehr differenziert zu betrachtendes Bild: Organisationsentwicklung war und ist dringend erforderlich, aber nicht unbedingt so, wie es, durch viele Managementmoden angetrieben, gerne propagiert wurde.

Das Sozialwesen im Rückblick

Im Jahr 2016 wurde das BTHG – das Bundesteilhabegesetz – verabschiedet. In der Pressemeldung damals hieß es, dass „das Gesetz (…) mehr Möglichkeiten und mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen“ schafft (BMAS, 2016). Für mich zeigt diese Entwicklung recht viel:

Einerseits zeigten sich in den letzten Jahren politisch wirklich gute Entwicklungen, die bspw. Menschen mit Behinderung oder auch Kinder (Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, inzwischen sogar ausgeweitet auf einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule) betrafen.

Bzgl. des BTHG sind Organisationen der Eingliederunghilfe zur Umsetzung des BTHG gefordert, neue Angebote und neue Organisationsstrukturen zu gestalten. Der Paradigmenwechsel von der Institutionenorientierung hin zur Personenorientierung ist hochgradig sinnvoll. Das BTHG soll die Teilhabe und damit die individuellen Rechte der Menschen mit Behinderung stärken. In der Praxis soll dies durch die Aufsplitterung der Betreuungsleistungen in Grund- oder Basismodule als Tagespauschale auf der einen Seite und auf der anderen Seite durch verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen abgebildet werden, geschehen (vgl. zu Fragen der Organisationsentwicklung und dem BTHG diesen Beitrag hier).

Der genauere Blick in die Herausforderungen zur Umsetzung der mit dem Gesetzesvorhaben BTHG einhergehenden Veränderungen zeigt jedoch auch viel Schatten:

Die Umsetzung ist zum einen eine enorme bürokratische Aufgabe und zum anderen lässt sich das BTHG auch als massives Sparprogramm lesen. So zeigt sich die Paradoxie des BTHG darin, dass auf der einen Seite damit geworben wird, die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln. Die Leistungen sollen sich am individuellen Assistenzbedarf orientieren und passgenau erbracht werden. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber klar formuliert, dass durch die Reform des BTHGs die seit Jahrzehnten ansteigende Ausgabendynamik gebremst werden soll (vgl. Bt-Drs. 18/9522, S.3). Auf diesen Widerspruch kann man eigentlich nicht oft genug hinweisen.

Ich erwähne das Beispiel BTHG hier – auf der Ebene des Sozialwesens – so ausführlich, da ich in den letzten Jahren kaum echte Verbesserungen im Sozialwesen erkennen konnte. Oft sind die Entwicklungen eher potemkinsche Dörfer anstatt echte Verbesserungen im Sinne der Menschen zu bewirken.

So zeigt auch das Beispiel Ganztagsbetreuung in der Grundschule ähnliche Schwächen: Schon zur Verabschiedung des Gesetzes zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG) war glasklar, wie sich die Personalsituation im Arbeitsfeld Erziehung und Bildung entwickeln wird. Wie kommt man also auf die Idee, ein Gesetz zu verabschieden, dass auf dem Rücken der Mitarbeiter:innen im Sozialwesen ausgetragen wird oder – auch keine bessere Perspektive – die Qualitätsstandards in der Ganztagsbetreuung soweit senkt, dass jeder Hans Wurst mit den Kids arbeiten kann („Waren Sie selbst mal Kind? Ja? Dann können Sie hier anfangen!“).

Du merkst – ich bin im Rückblick eher skeptisch, was die Entwicklungen des Sozialwesens angeht. Eine nachhaltige, zukunftsfähige „New Social Work“ im Sinne einer qualitativ hochwertigen Sozialen Arbeit, angeboten von zeitgemäß und bedarfsgerecht gestalteten Sozialen Organisationen, zur Förderung der gesellschaftlichen Entwicklungen (vgl. New Social Work Definition) ist kaum erkennbar.

Das hängt zu großen Teilen mit politischen Entscheidungen zusammen. Und Entscheidungen im politischen System sind leider alles andere als rational, wissenschaftlich fundiert oder immer so zukunftsfähig, wie es dringend nötig wäre.

Es geht im „System Politik“ nicht um die Leitdifferenz „richtig/falsch“, sondern um Mehrheiten, um Meinungen und um die Leitdifferenz „Macht/keine Macht“. Die Entscheidungen der Menschen im System, der Politiker:innen, orientieren sich – bewusst, meist aber unbewusst – an dieser Leitdifferenz.

Das erklärt die oftmals absurd wirkenden Äußerungen von Politiker:innen bspw. der konservativen Parteien aka CDU/CSU zu Themen rund um die Klimakatastrophe, voraussetzend, dass Merz, Söder und Co. nicht einfach nur dumm sind.

Und das erklärt eben auch die Entwicklungen rund um das ganze „Gedöns“ bzw. die Sozialpolitik, mit der für die politische Karriere kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Ob sich das heute geändert hat und in Zukunft ändert? We’ll see in Part 3… Aber ich nehme sehr gerne Kommentare entgegen, die das Bild etwas positiver erscheinen lassen. Also:

Immer her mit den guten Nachrichten (bspw. hier in den Kommentaren oder unter diesem Link hier)!!!

Die Gesellschaft im Rückblick

Ich gehe hier nur noch sehr kurz drauf ein, da ich denke, schon zuvor, auf Ebene des Individuums und des Sozialwesens, einiges zur gesellschaftlichen Entwicklung geschrieben zu haben. Deswegen nur als Wiederholung:

Rückblickend lebten wir zwischen 2010 und 2020 in einer ziemlich ruhigen Dekade, die wirtschaftlich und politisch wenig Aufregendes gebracht hat. Ein Schelm, wer an die Angela denkt…

Nein, ernsthaft: Es ging bergauf, Sicherheit, zumindest die gefühlte Sicherheit, stand ob auf der Agenda. Und diese damals noch gefühlte Sicherheit wankt, an allen Ecken und Enden.

Das sind wir hier im globalen Norden in dieser Intensität nicht gewohnt. Entsprechend gespannt bin ich, wo es sich hinentwickelt.

Für das Sozialwesen bedeutet wirtschaftliches Wachstum und Stabilität natürlich auch (im Groben) „ruhige(re) Zeiten“, die sich schon jetzt und zukünftig weiter verändern werden.

Fazit Part II: New Social Work Zwischenbilanz und der Blick zurück

Puh, alles ganz schön komplex und an den wenigsten Stellen auch nur ansatzweise zu Ende diskutiert. Aber ich hoffe, einen kleinen Einblick in meine Gedankenwelt gegeben zu haben.

Spannend ist für mich jetzt die Frage, wie sich Deine Auseinandersetzung mit der Sozialen Arbeit, im Blick zurück und über die letzten 10 Jahre verändert hat?

Wo hast Du im Rückblick Verbesserungen erlebt? Wo ist es nicht besser geworden?

Ich würde mich riesig freuen, wenn Du unter diesem Link hier Deine Rückmeldung zum Blick zurück, zum Status Quo und zu einer wünschenswerten Zukunft teilen würdest… Die ersten Rückmeldungen trudeln über den Link bereits ein!

Danke dafür schon jetzt!

Quellen:

  • Bergmann, F. (2004): Neue Arbeit, Neue Kultur. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, 2016): Bundesteilhabegesetz verabschiedet. URL: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2016/bthg-verabschiedet.html. Download am 30.05.2023.
  • Kühl, S. (2022): Managementmoden – Wie man unsicheres in sicheres Wissen verwandelt. URL: https://versus-online-magazine.com/de/kolumne/stefan-kuehl/managementmoden/ . Download am 30.05.2023.
  • Matthiesen, K., Muster, J., Laudenbach, P. (2022): Die Humanisierung der Organisation. Wie man den Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. München: Verlag Franz Vahlen.

New Social Work, eine Zwischenbilanz – Part I: Die Definition!

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Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Beitragsserie rund um New Social Work. Und zum Auftakt ist zunächst (m)eine New Social Work Definition darzulegen. Damit umreiße ich, was unter New Social Work zu verstehen ist (Part I). Daran anschließend will ich in Part II zurück, in die Historie, und in Teil III ins Jetzt, den Status Quo rund um New Social Work schauen. Dann, im (vorerst) abschließend in Teil IV, versuche ich, einen Blick in die Zukunft rund um „New Social Work“ zu wagen.

Hintergrund der Beitragsserie ist, dass ich im Jahr 2014 den Blog „IdeeQuadrat“ startete. Der erste Beitrag: Ein Review des Buchs „Reinventing Organizations“. Kurz drauf dann meine „Entdeckung“ des „Bergmannschen New Work“.

Die Verbindung aus neuen Formen der Organisationsentwicklung basierend auf Prinzipien von Selbstorganisation, Ganzheitlichkeit und der Suche nach dem „evolutionären Sinn“, mit den utopischen Gedanken einer Abkehr vom Lohnarbeitssystem haben mich begeistert, gefesselt und das finden lassen, was ich „wirklich, wirklich tun“ will. Das war der Beginn der Geschichte von IdeeQuadrat und der Beginn meiner vertieften Auseinandersetzung mit New Social Work.

Dabei leiten mich Fragen rund um zeitgemäße und bedarfsgerechte Organisationsentwicklung kombiniert mit dem Fokus auf soziale Organisationen, meiner beruflichen Herkunft, ohne gesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen aus dem Blick zu verlieren. Ich habe damit von Beginn an Organisationen, die uns alle von der Wiege bis zur Bahre begleiten – Kitas, Kindergärten, Jugendhilfeeinrichtungen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Suchthilfe, Wohlfahrtsverbände, kleine Träger, Komplexträger mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen und übergreifend „das Sozialwesen“ als gesellschaftsprägendes System fokussiert.

Und jetzt, nach fast zehn Jahren, ist einiges passiert. Einiges ist auch nicht passiert. Zeit für eine Zwischenbilanz. Und die beginnt mit Part 1 – der…

New Social Work Definition

New Social Work ist Organisationsentwicklung. New Social Work aus Blickrichtung der Organisationsentwicklung ist die Suche nach und das Gestalten von funktionalen, zeitgemäßen und bedarfsgerechten Organisationsdesigns für soziale Organisationen, die es ermöglichen, wirksame Soziale Arbeit im Sinne der Nutzer:innen wie der Mitarbeiter:innen sozialer Organisationen leisten zu können. Wortwörtlich: soziale Arbeit.

New Social Work ist gleichzeitig Arbeit an der Gesellschaft. New Social Work nimmt damit gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick. Sie ist politisch – wie Soziale Arbeit schon immer politisch war. Und sie ist zukunftsorientiert, denn New Social Work nimmt „gesellschaftliche Megatrends“, die gesellschaftlichen Veränderungen in den Blick, von der digitalen Transformation, über die Individualisierung, den demographischen Wandel bis hin zu Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit uvm.

Vier Ebenen einer New Social Work

Der Definition liegen vier Ebenen zugrunde, die hier skizziert und jeweils in den folgenden Beiträgen dieser Serie in den Blick genommen werden, um eine angemessene Betrachtungstiefe zu ermöglichen:

1. Ebene: Das Individuum

Der „Real New Work“ im Sinne Bergmanns ging es über die Schaffung einer Alternative zum klassisch-kapitalistischen Lohnarbeitssystem darum, Menschen zu befähigen, das zu finden, was sie „wirklich, wirklich tun“ wollen. Darüber rückt automatisch „der Mensch“ als Individuum nach auf die Bühne.

Es geht um die Vorstellungen, die wir in unserer Gesellschaft „vom Wesen des Menschen“ haben. Eas geht um unsere Menschenbilder: Nur dann, wenn die Vorstellung existiert, dass Menschen sich entwickeln, sich verändern können und wollen und damit nach Selbstbestimmung und Autonomie, nach Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit, nach Selbstverwirklichung und Sinn streben, machen Vorstellungen rund um New Work und die Suche nach dem, was Menschen „wirklich, wirklich tun wollen“ Sinn.

Nur aus dem gleichen Menschenbild heraus ist Soziale Arbeit als Profession und Disziplin denkbar. Nur dann, wenn wir als Professionelle davon ausgehen, dass wir einen Beitrag zur Selbstbestimmung und Autonomie der Menschen – egal in welchem Arbeitsfeld – leisten können, macht Soziale Arbeit Sinn.

Fraglich ist aber, wie es bestmöglich gelingen kann, zum einen Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft und unseren Organisationen zu schaffen, die dem Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie zuträglich sind? Zum anderen ist fraglich, wie das „auf die Welt bringen des in den Menschen liegenden Potenzials“ bestmöglich gelingen kann. Hier rückt u.a. das Bildungssystem in den Fokus. Und – aus einer bestimmten Richtung – sind auch soziale Organisationen immer Organisationen der Bildung.

2. Ebene: Die Organisationen

Wie definiert umfasst New Social Work als einen Fokusbereich die Organisationsentwicklung und damit einer Veränderung der Arbeitswelt. Denn es wird im Wesentlichen durch die Veränderung der Arbeitswelt möglich, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern, hin zu mehr Nachhaltigkeit, Zusammen-Leben, Sinn, Zeit für das wirklich, wirklich Wichtige für jeden einzelnen Menschen.

Das ist übrigens, wenn man die Geschichte betrachtet, schon immer so gewesen: Durch die Entwicklung der Landwirtschaft sind die Menschen sesshaft geworden, durch die Entwicklung der Webstühle und der Dampfmaschine wurde das Industriezeitalter eingeläutet und durch die Informationstechnologie bewegen wir uns immer in einer „Wissensgesellschaft“. Und all diese Veränderungen der Arbeitswelt haben zu neuen Gesellschaftssystemen geführt:

„Wichtige historische Gesellschaftsformationen sind nach Marx die klassenlose Urgesellschaft der frühen Stammesgesellschaften, die von Landwirtschaft und despotischer Herrschaft geprägte ‚asiatische Produktionsweise‘, die Sklavenhaltergesellschaft der Antike, der Feudalismus des Mittelalters und die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise“.

Hinzu kommen natürlich Sozialismus und Kommunismus, deren Bezug zur Arbeitswelt als „Diktatur des Proletariats“ auf der Hand liegt. Damit wird deutlich:

Die Veränderung der Organisationen und damit die Veränderung der Art, wie wir arbeiten, führt zu gesellschaftlicher Veränderung.

Und soziale Organisationen, die „als Vorreiter der gesellschaftlichen Transformation ihren wirkungsvollen Beitrag für eine lebenswerte Gesellschaft nachhaltig leisten„, spielen dabei eine unfassbar wichtige Rolle.

Für New Social Work rückt auf dieser Ebene die Frage ins Zentrum, wie es gelingen kann, Organisationen, deren Zwecke, Prozesse, formale Hierachien und darüber „soziale Arbeit“ so zu gestalten, dass der Zweck der jeweiligen Organisation bzw. des jeweiligen Teams bestmöglich erreicht werden kann.

3. Ebene: Das Sozialwesen

Soziale Organisationen sind eingebunden in ein nach bestimmten Bedingungen funktionierendes „funktionsspezifisches Teilsystem“ der Gesellschaft – das Sozialwesen.

Funktionsspezifische Teilsysteme sind „funktions-, leistungs-, medien-/codespezifische und (re-)programmierbare, sich selbst validierende selbstsubstitutive autopoietische Systeme“ (Krause, 2005, 44), die einerseits mehr oder weniger miteinander und andererseits in der Gesamtheit all dieser gesellschaftlichen Kommunikationen auch übereinander kommunizieren und damit Gesellschaft prägen. Sie sind operativ geschlossen. Der Code bzw. die Leitdifferenz des Sozialsystems ist „helfen/nicht helfen“ (Kleve, 2007, 147). Jedes funktionsspezifische gesellschaftliche Teilsystem übernimmt für die Gesellschaft exklusiv eine bestimmte Funktion (vgl. Krause, 2005, 49).

Auch wenn fraglich ist, ob das Sozialwesen exklusiv eine bestimmte Funktion übernimmt und damit per Definition ein eigenständiges, funktionsspezifisches Teilsystem unserer Gesellschaft ist, gehe ich zur Komplexitätsreduktion einmal davon aus. Soziale Dienstleistungen als öffentliche Güter und damit „das Sozialwesen insgesamt“ ist hochgradig abhängig von der geltenden Sozialpolitik.

Daraus resultieren wiederum Fragen: (Wie) gelang, gelingt und wird es zukünftig gelingen, zum einen der Sozialpolitik, sinnvolle, zukunftsgerichtete Entscheidungen für die Menschen, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind, zu treffen? Und wie gelang, gelingt und wird es zukünftig den Verantwortungsträger:innen wie bspw. den Wohlfahrtsverbänden gelingen, diese Entscheidungen im Sinne der Anwaltschaft für die Nutzer:innen (und nicht nur zur eigenen Sicherung des Überlebens) zu beeinflussen?

4. Ebene: Die Gesellschaft

Der Blick in die Vergangenheit bis zur Gegenwart der Sozialen Arbeit zeigt Licht und Schatten. Die Entwicklung Sozialer Arbeit lässt sich als »wahre Erfolgsgeschichte« (Merten 2001, S. 165) erzählen. Thiersch bezeichnet das letzte Jahrhundert gar als »sozialpädagogisches Jahrhundert« (vgl. 1992). Das Wachstum des Sozialwesens, gemessen an Beschäftigtenzahlen oder volkswirtschaftlichem Nutzen, ist beeindruckend.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob das quantitative Wachstum des Sozialwesens mit qualitativen Verbesserungen, mit der Steigerung der Wirksamkeit Sozialer Arbeit und der Annäherung an die in der Definition Sozialer Arbeit dargelegten Vision einherging. Ohne Frage hat sich „die“ Soziale Arbeit weiterentwickelt.

Auf der vierten Ebene stellt sich die Frage, ob Soziale Arbeit wirklich gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, den sozialen Zusammenhalt gefördert hat, aktuell fördert und zukünftig fördern wird?

Fazit Part I: New Social Work Definition

Wenn ich die Ausführungen zur New Social Work Definition so anschaue, könnte es ein ziemlich umfangreiches Unterfangen werden, eine Zwischenbilanz rund um New Social Work zu ziehen. Aber ich denke, es ist an der Zeit, innezuhalten und dies zu versuchen. Entsprechend will ich in den kommenden Beiträgen – für mich, für Dich und vielleicht auch darüber hinaus – auf die oben gestellten Fragen eingehen.

Dabei werden meine Antworten sicherlich immer sehr persönlich gefärbt sein. Ich hoffe, das passt für Dich…

Gespannt bin ich aber schon jetzt, zu hören, was Du von der Definition und den Ausführungen hältst? Lass doch einen Kommentar da und gib eine Rückmeldung dazu. Vielleicht kann ich diese in den weiteren Beiträgen einbauen… Danke schon jetzt!

Quellen

  • Gesmann, S., Merchel, J. (2019): Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit: Handbuch für Studium und Praxis. Erste Aufl. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH.
  • Kleve, H. (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Aufl., Wiesbaden: Springer.
  • Krause, D. (2005): Luhmann-Lexikon. 4.Aufl., Stuttgart: Lucius & Lucius.
  • Merten, R. (2001): Wissenschaftliches und professionelles Wissen – Voraussetzungen für die Herstellung von Handlungskompetenz. In: Pfaffenberger, Hans (Hrsg.). Identität – Eigenständigkeit – Handlungskompetenz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Beruf und Wissenschaft. Münster, Hamburg, London: LIT Verlag, S. 165–192.
  • Thiersch, H. (1992): Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: Rauschenbach, Thomas/Gängler, H. (Hrsg.). Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag, S. 9–23, 1992.